220 Vie öferreithischenngarische Monarchie. (Oktober 27.—30.)
Baron Bienerth, Dr. Klein und Dr. Marchet, von denen der letztere erst
durch die Wahlen im Mai die parlamentarische Marke verloren hat, sitzen
nun als Vertreter der Parlamentsmehrheit die vom Volke am Wahltage
mit seinem Vertrauen ausgestatteten, „parlamentarischen Minister“ Dr. von
Derschatta, Dr. Geßmann, Dr. Ebenhoch, Peschka, Dr. Fiedler, Praschek und
Abrahamowicz, welche daher im Kabinette selbst über die knappe Mehr-
zahl der Stimmen verfügen. Man kann also sagen, daß das neue
Ministerium das erste Volksministerium ist. Möge sein Wirken ein ge-
deihlicheres sein, als das des ersten „Bürgerministeriums“, das seinerzeit
mit viel reklamehaftem Lärm und unbegrenzten Hoffnungen begrüßt
worden ist, aber alle diese Hoffnungen schmählich enttäuschte. Es ist
charakteristisch für die Umgestaltung unserer ganzen politischen Macht-
verhältnisse und vielleicht ein gutes Omen, daß im neuen Ministerium
wei Bauern als Vertrauensmänner der deutschen und tschechischen Nation
sien. Was den Akademikern und Theoretikern nicht gelungen ist, vielleicht
gelingt es dem gesunden Hausverstande der Bauern: die nationale Ver-
ständigung zu erwirken. Niemand hat mehr unter den Folgen des natio-
nalen Streites, der das Parlament seit mehr als einem Jahrzehnt lahm-
gelegt und impotent gemacht hat, zu leiden gehabt, als gerade die
ländliche Bevölkerung. Wie oft hieß es: Wir, die Völker, vertrügen uns
schon, wenn man uns erst fragen würde. Nun sitzen zwei Bauern-
Exzellenzen im Kabinett, und zwar gerade als Repräsentanten des deut-
schen und tschechischen Volkes. Dem nationalen Frieden, den wir erhoffen,
vorausgegangen ist eine vorläufige Verständigung der maßgebenden Par-
teien innerhalb der einzelnen Nationen. Die Friedensstörer wurden aus-
geschaltet und kaltgestellt, unter den Deutschen wie unter den Tschechen,
während unter den Tschechen eine der Wirklichkeit besser entsprechende
Machtverteilung stattfand.
Nach anderen hängen die Veränderungen innerlich mit der Not-
wendigkeit zusammen, den Ausgleich mit Ungarn zur parlamentarischen
Erledigung zu bringen. Da dieses Ziel nur durch Zusammenwirken aller
großen Parteien erreichbar ist, wurden deren Vertrauensmänner in das
Ministerium berufen.
27. Oktober. (Ungarn.) Bei einem Tumult in Czernowo
(Komitat Liptau) anläßlich der Einweihung einer katholischen Kirche
werden durch Gendarmen 15 Slowaken getötet.
29. Oktober. (Ungarn.) Im Abgeordnetenhause verteidigt
Ministerpräsident Wekerle die ungarische Nationalitätenpolitik
gegen Angriffe der Serben und Kroaten. Nirgends würden die
fremdsprachigen Staatsbürger so liberal behandelt wie in Ungarn.
30. Oktober. (Cisleithanien). Im Abgeordnetenhause
protestieren tschechische und deutsche Redner gegen die Unterdrückung
der Nationalitäten in Ungarn und gegen das Blutbad in Czernowo.
30. Oktober. (Cisleithanien.) Das Abgeordnetenhaus
beendet die erste Lesung des Ausgleichs und verweist ihn an eine
Kommission. Die meisten Redner sprechen scharf gegen eine
Trennung von Ungarn und beurteilen den Ausgleich im allgemeinen
günstig.