Römische Kurie. (August 2.—18. November.) 291
Ehe konnte ein Sakrament des Neuen Bundes erst später in der Kirche
werden; damit nämlich die Ehe für ein Sakrament gehalten wurde, mußte
erst die vollständige theologische Auseinandersetzung über die Gnade und
die Sakramente abgeschlossen sein. 52. Es lag nicht im Sinne Christi, die
Kirche einzusetzen als eine Gemeinschaft, die auf Erden durch die Jahr-
hunderte bindarch bestehen sollte; vielmehr war sie im Geiste Christi ein
himmlisches Reich, das gleichzeitig mit dem Untergange der Welt kommen
sollte. 53. Die organische Einrichtung der Kirche ist nicht unveränderlich,
sondern die christliche Gemeinschaft ist geradeso wie die menschliche Gemein-
schaft einer fortwährenden Entwicklung unterworfen. 54. Die Dogmen,
die Sakramente, die Hierarchie sind, sowohl nach ihrem Begriffe wie in
ihrer Tatsächlichkeit, nur Aeußerungen und Entwickelungen des christlichen
Gedankens, die den schwachen, im Evangelium verborgenen Keim durch
äußere Mehrung wachsen und sich vervollkommnen ließen. 55. Simon
Petrus hat niemals auch nur geahnt, daß ihm von Christus der Primat
in der Kirche übertragen worden sei. 56. Die römische Kirche ist nicht
durch die Anordnung der göttlichen Vorsehung, sondern lediglich durch
die politischen Verhältnisse das Haupt aller Kirchen geworden. 57. Die
Kirche stellt sich feindlich zu den Fortschritten der natürlichen und theolo-
gischen Wissenschaften. 58. Die Wahrheit ist nicht mehr unveränderlich
als auch der Mensch, da sie ja mit ihm, in ihm und durch ihn sich ent-
wickelt. 59. Christus lehrte nicht einen festbegrenzten Lehrinhalt, der
auf alle Zeiten und alle Menschen anzuwenden sei, sondern vielmehr
leitete er eine gewisse religiöse Bewegung ein, die den verschiedenen
Zeiten und Orten sich anpaßte oder anzupassen sei. 60. Die christliche
ehre war in ihrem Ursprung jüdisch, wurde aber im Laufe der aufein-
ander folgenden Entwickelungsstufen zuerst paulinisch, dann johanneisch,
schließlich hellenisch und universal. 61. Es kann ohne einen Widerspruch
gesagt werden, kein Teil der Heiligen Schrift, vom Anfang der Genesfis
bis zum Schluß der Apokalypse, enthalte eine Lehre, die vollständig iden-
tisch sei mit der, welche die Kirche über dieselbe Sache gibt, und deshalb
habe kein Teil der Heiligen Schrift denselben Sinn für den Kritiker und
für den Theologen. 62. Die hauptsächlichen Artikel des apostolischen
Glaubensbekenntnisses hatten für die Christen der ersten Zeiten nicht die-
selbe Bedeutung, die sie für die Christen unserer Zeit haben. 63. Die
Kirche erweist 44h unfähig, die Ethik des Evangeliums wirksam zu schützen,
weil sie starrsinnig beharrt bei unabänderlichen Lehren, die mit den heutigen
Fortschritten sich nicht vereinigen lassen. 64. Der Fortschritt der Wissen-
schaften erfordert, daß die Begriffe der christlichen Lehre von Gott, der
Schöpfung, der Offenbarung, der Person des menschgewordenen Heilandes,
der Erlösung reformiert werden. 65. Der heutige Katholizismus läßt sich
mit wahrer Wissenschaft nicht vereinigen, es sei denn, daß er in eine Art
undogmatischen Christentums umgestaltet werde, d. h. in einen weitherzigen
und liberalen Protestantismus.
2. August. Durch ein Dekret der Konzilskongregation wird
das vom Konzil von Trient erlassene Dekret Tametsi über die
Form der Eheschließung außer Kraft gesetzt.
18. November. Der Papst erläßt folgendes motu proprio
über Bibelstudium und Modernisten:
In seiner Enzyklika Providentissimus Deus vom 18. November 1893
hat Papst Leo XIII., Unser Vorgänger unsterblichen Gedenkens, die Vor-
züglichkeit der heiligen Schrift auseinandergesetzt, ihr Studium empfohlen
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