Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1907. (48)

Rußland. (Mai 23.) 321 
der Parteien der Linken: Es werde sich daraus ein wirklicher Staatsstreich 
und eine soziale Umwälzung ergeben. Aber die Redner der Linken hätten 
das auch selbst bemerkt. In den Nord-Provinzen würden die Bauern 
mehr als 150 Desjätinen erhalten, in der Provinz Archangelsk sogar 1309 
Desjätinen, wenn alles Land verteilt werde; in der Provinz Poltawa 
würden sie aber nur 9 Desjätinen pro Familie erhalten. Von den in 
seiner Rechnung berücksichtigten Ländereien gehörten 107000 Desjätinen 
Adligen, 490000 Bauern und 85000 Städtern. Es sei ersichtlich, daß die 
Verteilung aller Ländereien unter alle nicht der Landarmut in verschiedenen 
Provinzen steuern werde. Es werde also nötig sein, auf das Mittel zu- 
rückzugreifen, das die Regierung selbst vorschlage, nämlich die Auswanderung. 
Die Bevölkerung des europäischen Rußlands allein nehme jährlich 1625000 
Seelen zu, und es würden, wenn man 10 Desjätinen auf die Familie 
rechne, jährlich 3½ Millionen Desjätinen allein für diese Bevölkerungs- 
zunahme nötig sein. Alles würde in Rußland gleich gemacht, der Trieb 
zur Arbeit würde gebrochen und das Kulturniveau herabgesetzt werden. 
Das Endergebnis werde ein neuer Staatsstreich sein, da starke und geschickte 
Männer sich ihr Eigentumsrecht mit Gewalt wieder verschaffen würden. 
Man mache der Regierung den Vorschlag, Rußland in eine Ruine zu ver- 
wandeln und darauf ein neues Vaterland aufzubauen. Ich denke, erklärt 
der Ministerpräsident, Rußland wird nicht an der Schwelle seines zweiten 
Millenniums zusammenbrechen, ich glaube vielmehr, es wird sich wieder 
erholen und vorwärts gehen; es wird sich nicht auf den Weg der Zersetzung 
begeben, denn Zersetzung würde gleichbedeutend mit Tod sein. Stolypin 
kritisiert sodann das Programm der konstitutionell-demokratischen Partei, 
das voller Widersprüche und unklar sei. Einmal anerkannt, zerstöre das 
Prinzip der gewaltsamen Enteignung den Begriff des Eigentums. Die 
Regierung schließe sich aber einem anderen Gedanken der Partei an, nämlich 
dem der wirtschaftlichen Freiheit der Bauern. Die Partei proklamiere den 
Grundsatz der Staatshülfe für die Bevölkerung, aber dieser Grundsatz stehe 
in krassem Widerspruch zu der Maßnahme einer gewaltsamen Enteignung. 
Der Minister weist sodann auf die Agitation in den Provinzen unter den 
Bauern hin. Die Regierung schließe sich den Kreisen des Publikums an, 
welche das Leben der Bauern auf gesetzlichem Wege verbessern wollen, 
aber es gebe eine Gegenströmung, welche die Unruhen vermehren und alle 
regierungsfeindlichen Kräfte vereinigen wolle. Man habe Briefe von Peters- 
burg verschickt, die in den Provinzblättern veröffentlicht seien, man habe 
vorgeschlagen, das Land mit Gewalt fortzunehmen. Unter solchen Umständen 
müsse man gewärtig sein, daß Versuche gemacht würden, sich mit Gewalt 
Land anzueignen. Die Gefahr sei noch weit, man müsse aber eine Grenze 
ziehen, die zu überschreiten der Staat, wenn er Staat bleiben wolle, nicht 
gestatten dürfe. Der Entwurf der konstitutionell-demokratischen Partei 
würde zu demselben Endresultat führen wie der der Parteien der Linken. 
Stolypin legt dann den Standpunkt der Regierung dar. Die Regierung 
wolle das Los der Bauern verbessern, die Regierung wolle, daß der Bauer 
wohlhabender Eigentümer sei, denn wo Wohlhabenheit sei, da sei auch 
Bildung und wahre Freiheit. Zu dem Zwecke müsse der Bauer von den 
Bedingungen, unter denen er jetzt lebe, befreit werden, er müsse in den 
Besitz der Früchte seiner Arbeit kommen. Allen Bauern, denen Land 
mangele, müsse das nötige Land gegeben werden. Man habe gesagt, daß 
zu diesem Zweck 57 Millionen Desjätinen notwendig seien, während die 
Regierung nur 10 Millionen besitze; aber die Regierung habe soeben erst 
ihr Werk begonnen. Man habe die Landbank angegriffen. Man sage, 
man solle alles unterlassen. Die Regierung glaube dagegen, daß man 
Europäischer Geschichtskalender. XVIII. 21
	        
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