Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1907. (48)

Außland. (Juni 16.) 325 
gaben, durch welche die Regelmäßigkeit der nationalen Wirtschaft bestimmt 
wird, und endlich durch weisen Gebrauch des Rechtes der Interpellation 
an die Regierung zu dem Zwecke, die Wahrheit und die Gerechtigkeit überall 
zu befestigen. Diese von uns den Erwählten der Nation anvertrauten 
Pflichten legten diesen die schwere Verantwortlichkeit und die heilige Ver- 
pflichtung auf, ihre Rechte zu gebrauchen für eine vernünftige und frucht- 
bringende Arbeit zum Wohle und zur Befestigung des russischen Staates. 
Dies war unser Gedanke und unser Wille, seitdem wir dem Volke die 
neuen Grundlagen für das Staatsleben gegeben haben. Zu unserem Kummer 
hat ein beträchtlicher Teil der Mitglieder der zweiten Reichsduma unsere 
Erwartungen nicht gerechtfertigt. Nicht mit reinem Herzen, nicht mit dem 
Wunsche, Rußland wieder zu befestigen und seine Verwaltung zu vervoll- 
kommnen, haben sich viele der Abgesandten des Volkes an die Arbeit 
gemacht, sondern in der ausgesprochenen Absicht, die Unruhen zu ver- 
mehren und zur Zersetzung des Staates beizutragen. Infolge der Tätig- 
keit dieser Personen hat die Reichsduma ein unüberwindliches Hindernis 
für eine fruchtbare Arbeit gebildet. Ein feindseliger Geist wurde in die 
Dumo selbst hineingetragen und verhinderte dort den Zusammenschluß einer 
genügenden Anzahl von Mitgliedern, die gewillt gewesen wären, für die 
Interessen des Vaterlandes zu arbeiten. Aus diesem Grunde hat die Reichs- 
duma über die weitgehenden, von unserer Regierung ausgearbeiteten Maß- 
nahmen entweder gar nicht verhandelt, ihre Diskussion verzögert oder sie 
verworfen, wobei sie nicht einmal vor der Zurückweisung von Gesetzen 
zurückscheute, die die offene Verherrlichung von Verbrechen mit Strafen 
belegten und insbesondere diejenigen mit Strafen bedrohten, die Beun- 
ruhigung in die Armee hineintrugen. Indem die Reichsduma so sich 
weigerte, Morde und Gewalttaten zu mißbilligen, hat sie auch der Regierung 
bei der Wiederherstellung der Ordnung die moralische Unterstützung nicht 
geleistet, und Rußland leidet nach wie vor unter der Schmach einer ver- 
brecherischen Zeitperiode und unter großem Mißgeschick. Die Prüfung des 
Budgets seitens der Duma brachte Verwirrung in die notwendige Be- 
friedigung vieler ein Lebensinteresse des Volkes bildenden Forderungen. 
Das Recht, Interpellationen an die Regierung zu richten, wurde von einem 
beträchtlichen Teile der Duma in ein Mittel zur Bekämpfung der Regierung 
und zur Erregung von Mißtrauen gegen sie in weiten Schichten des Volkes 
umgewandelt. Endlich wurde ein in den Annalen der Geschichte unerhörter 
Akt begangen. Die Gerichtsbehörden entdeckten eine Verschwörung eines 
Teiles der Duma gegen den Staat und die Kaiserliche Gewalt. Aber als 
unsere Regierung die zeitweilige Ausschließung bis zum endgültigen Urteils- 
spruch von 55 des Verbrechens angeschuldigten Dumamitgliedern und die 
Verhaftung der am meisten Verdächtigen von ihr forderte, erfüllte die Duma 
nicht unverzüglich die gesetzmäßige Forderung der Behörden, welche einen 
Aufschub nicht zuließ. Alle diese Umstände zwangen uns, durch Erlaß 
vom 16. d. M. an den Senat die zweite Duma aufzulösen und als Tag 
der Zusammenberufung der neuen Duma den 14. November festzusetzen. 
Im Vertrauen auf die Vaterlandsliebe und den politischen Sinn unseres 
Volkes sehen wir jedoch die Ursache des zweimaligen Mißerfolges der 
Tätigkeit der Reichsduma darin, daß wegen der Neuheit des Werkes und 
wegen der Unvollkommenheit des Wahlgesetzes diese gesetzgeberische Ein- 
richtung sich aus Mitgliedern zusammensetzte, die nicht die wahren Ver- 
treter der Bedürfnisse und Wünsche des Volkes waren. Infolgedessen haben 
wir, indem wir alle durch das Manifest vom 30. Oktober 1905 unseren 
Untertanen erteilten Rechte und die Grundgesetze in Kraft lassen, den 
Entschluß gefaßt, das Verfahren für die Berufung der Volksvertreter in
	        
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