Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1907. (48)

Nachtrag zu S. 291. 369 
bloß versteckt, vor; freier sprechen sie in Versammlungen; bei sozialen Ver- 
anstaltungen ziehen sie dieselben herein und preisen sie an. Bücher, Zeitungen 
und Abhandlungen lassen sie unter eigenem oder fremdem Namen erscheinen. 
Der gleiche Schriftsteller gebraucht oft viele Namen, um Unvorsichtige 
durch Vorspiegelung vieler Autoren zu täuschen. Kurz, in der Agitation, 
in Wort und Schri, überall entfalten sie eine wahrhaft fieberhafte Tätig- 
keit. — Und was ist das Ergebnis von alledem? Wir haben es zu beklagen, 
daß eine große Anzahl junger Leute, welche die schönsten Hoffnungen 
erweckten und zum Besten der Kirche so viel Gutes tun könnten, vom 
rechten Wege abgewichen sind. Auch das berührt Uns schmerzlich, daß 
viele, die zwar nicht so weit gehen, doch von der schlechten Atmosphäre 
angesteckt sind und sich gewöhnen, mit einer Ungebundenheit zu denken, 
zu reden und zu schreiben, wie sie einem Katholiken schlecht ansteht. Es 
gibt solche unter den Laien und ebenso im Klerus; ja sogar in religiösen 
Orden, wo man es am wenigsten erwarten sollte, fehlen sie nicht. Man 
behandelt die biblischen Fragen nach den Regeln des Modernismus. 
Schreibt man Geschichte, so stellt man, unter dem Schein der Objektivität, 
mit sichtlichem Vergnügen alles ans Licht, was der Kirche einen Makel 
anheften könnte. Fromme Volksüberlieferungen sucht man, nach vor- 
gefaßtem Urteil, mit aller Entschiedenheit abzutun. Altehrwürdige Reliquien 
gibt man der Verachtung preis. Die Eitelkeit verlangt ja, in der Welt 
von sich reden zu machen; und das glaubt man nicht erreichen zu können, 
wenn man nur das wieder sagt, was immer und allgemein gesagt worden 
ist. Vielleicht redet man sich dabei noch ein, man tue Gott und der Kirche 
einen Dienst; tatsächlich wird hierdurch schwer gefehlt, und zwar nicht 
allein durch die Arbeiten selbst, sondern noch mehr durch die Gesinnung, 
woraus dieselben entspringen, und weil dadurch der Kühnheit der Moder- 
nisten in weitgehendem Maße Vorschub geleistet wird. 
Unser Vorgänger glorreichen Andenkens, Leo XIII., hat in Wort 
und Tat sich, besonders in der Bibelfrage, mannhaft diesem Strome grober 
Irrtümer entgegengestemmt, der insgeheim und offen einzudringen suchte. 
Aber die Modernisten lassen sich, wie Wir gesehen, nicht leicht durch solche 
Abwehr schrecken: die Worte des Papstes haben sie, während sie die größte 
Ehrfurcht und Unterwürfigkeit dagegen zur Schau trugen, zu ihren Gunsten 
verdreht und sein Einschreiten auf irgend welche andere Leute bezogen. 
So ist das Uebel von Tag zu Tag schlimmer geworden. Deshalb, Ehr- 
würdige Brüder, haben Wir beschlossen, nicht länger zuzusehen, sondern 
energischere Maßregeln zu ergreifen. — Euch aber bitten und beschwören 
Wir, daß Ihr es in einer so wichtigen Sache auch nicht im geringsten an 
Wachsamkeit, Eifer und Festigkeit fehlen lasset. Und was Wir von Euch 
wünschen und erwarten, das wünschen und erwarten Wir ebenso von den 
übrigen Seelenhirten, von den Erziehern und Lehrern des jungen Klerus, 
besonders aber von den Generalobern der religiösen Orden. 
I. Was also zunächst die Studien angeht, so wollen und verordnen 
Wir in aller Form, daß die scholastische Philosophie zur Grundlage der 
kirchlichen Studien gemacht werde. — Freilich, wenn sich bei den Schola- 
stikern etwas findet, das allzu spitzfindig ausgeklügelt oder ohne die nötige 
Ueberlegung vorgebracht worden, oder etwas, das mit den sichergestellten 
Ergebnissen einer späteren Zeit nicht stimmt, oder schließlich etwas, das in 
irgend einer Weise unwahrscheinlich ist: so liegt es Uns durchaus fern, das 
Unserer Zeit zur Nachahmung zu empfehlen. Die Hauptsache ist diese: Wenn 
Wir die Beibehaltung der scholastischen Philosophie vorschreiben, so ist vor 
allem die gemeint, welche der hl. Thomas von Aquin gelehrt hat; was hier- 
über von Unserem Vorgänger bestimmt worden, das, so wollen Wir, soll alles 
Europäischer Geschichtskalender. XVIII. 24
	        
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