Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

88 Das Pentsqe Reich und seine eintelnen Glieder. (März 8.) 
nicht möglich, sie zu besuchen. In der Gewerbeaussicht marschieren wir an 
der Spiße. 1906 hatten wir bereits 428 Gewerbeaufsichtsbeamte, während 
fünf andere große Industriestaaten nur etwa ebensoviel zusammen haben. 
Was den Alkoholgenuß der polnischen Arbeiter in Oberschlesien 
anlangt, so konnte ich nur feststellen: so viel wie in Oberschlesien wird 
im Ruhrrevier und an der Saar nicht getrunken. Ob es angebracht ist, 
die Wirtschaftskantinen in den Betrieben ganz abzuschaffen, kann zweifelhaft 
sein. Ich persönlich suche darauf zu halten, daß die Arbeiter an der 
Arbeitsstelle selbst alkoholfreie Getränke bekommen. Nicht richtig ist die 
Behauptung des Abgeordneten Korfanty, daß die Behörden an der Rück- 
ständigkeit der oberschlesischen polnischen Arbeiter schuld seien. Er sagt, 
sie verständen nicht die deutschen Arbeitsordnungen. Daran sind aber die 
polnischen Agitatoren selbst schuld, Herr Korfanty, denn diese hindern ja 
die Arbeiter, das erlernte Deutsch weiter zu pflegen. Ich hatte einmal 
als Landrat im Kreisausschusse ein polnisches Mädchen zu vernehmen, 
welches behauptete, es könne nicht deutsch sprechen. Da sagte ich ihr: 
Mein Kind, du bist ja erst vor einem Jahre aus der Schule entlassen 
und warst damals die beste Schülerin im Deutschen. Ich habe selbst einen 
Aufsatz von dir prämiiert. Da konnte sie mit einem Male Deutsch. (Hört, 
hört! rechts.) In einem andern Falle wollten in einem Auseinander- 
setzungsverfahren polnische Bauern, daß ein Dolmetscher hinzugezogen 
würde. weil sie nicht Deutsch könnten. Da hatte ich Gelegenheit, dem 
Dolmetscher zu sagen: Sie übersetzen falsch, und sofort fiel der polnische 
Bauer ein: Tak, tak, Panie Landrat! (Große Heiterkeit.) Darauf ent- 
gegnete ich ihm: Dann könnten wir uns doch gleich gut deutsch unter- 
halten, und das haben wir denn auch getan. (Heiterkeit.) Wohnungs- 
statistiken haben nur dann einen Zweck, wenn sie nach festen Grundsätzen 
von statistisch geschulten Kräften gemacht werden. Zu den gesetzlichen Auf- 
gaben der Krankenkassen gehören sie nach einer Entscheidung des Ober- 
verwaltungsgerichts nicht. Wollten wir nach dem Antrage Borgmann zu 
den Gewerbeaufsichtsbeamten auch noch Aerzte hinzuziehen, so würden wir 
die Medizinalkollegien in eine Unzahl von Einzelbeamten auflösen. Weib- 
liche Arbeitskräfte kann man für die Gewerbeaufsicht wohl dort heran- 
ziehen, wo viele weibliche Arbeitskräfte vorhanden sind. Dies aber als 
Norm vorzuschreiben, hat keinen Zweck. 
Mit Freuden habe ich es begrüßt, daß mir eigentlich von allen 
Seiten des Hauses Vertrauen entgegengebracht wird. Ein Volk besteht 
nicht aus einer Unzahl von Arbeiterhänden, sondern auch aus einer Unzahl 
von arbeitenden Köpfen, und diese haben kein geringeres Recht. Die Auf- 
gaben eines Volkes erschöpfen sich auch nicht in der Schaffung einer Masse 
materieller Werte, sondern es ist auch der Träger religiöser, ethischer und 
kultureller Ideale. Ein Volk, das vergißt, diese idealen Ziele zu pflegen, 
wird bald auf einen abgleitenden Weg geraten. Deshalb ist es meine 
Pflicht, nicht bloß für die Arbeiter zu sorgen, sondern auch dafür, daß 
das übrige Volk in seinen kulturellen und sittlichen Bedürfnissen nicht zu 
kurz kommt. (Lebhafter Beifall rechts.) 
8. März. (Reichstag.) Bei der Beratung des Postetats 
kommt es am fünften Tage zur Besprechung des Titels „Vergütung 
an auswärtige Post= und Telegraphengesellschaften, Dampfer- 
linien usw.“, der mit 27300000 Mark dotiert ist. 
Erzberger (Ztr.) verlangt Spezialisierung der einzelnen Posten 
und nimmt Bezug auf einen Artikel im Berliner Tageblatt über die Be-
	        
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