Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Veuische Reich und seine einelnen Glieder. (März 30.) 125 
Nach längeren Ausführungen der Abgg. Wiemer (sfrs. Vp.), 
Dr. David (Soz.), Fürst Hatzfeld (Rp.), Haußmann (südd. Vp.) 
und anderen bespricht der Reichskanzler am Schluß einer langen 
Rede auch die Aussichten der Reichsfinanzreform. 
Er sagt: Ueberall macht sich, darüber kann kein Zweifel bestehen, 
in täglich steigendem Maße die Sorge geltend um das Zustandekommen 
der Reichsfinanzreform. (Allgemeine Zustimmung.) Ihre Kommission ist 
nun bereits seit drei Monaten am Werke, und noch liegt kein entscheidendes 
Ergebnis vor, und doch verträgt die Sache keinen Aufschub. Die in Frage 
stehenden Interessen des Reichs und der Einzelstaaten sind zu wichtig, als 
daß die Entscheidung herausgezögert werden könnte. Wenn wir in dieser 
Beziehung irgendwelche Zweifel hatten, so würden sie uns genommen 
werden müssen durch die Stimmen der Ungeduld und der Unzufriedenheit, 
die aus dem Lande täglich an unser Ohr schlagen. (Lebhafte Zustimmung.) 
Das Land empfindet es als eine nationale Kalamität, daß die Entscheidung 
über die Finanzreform so lange hinausgezögert wird, das Land würde es als 
ein nationales Unglück auffassen, wenn dies hohe Haus sich außerstande zeigte, 
die Reichsfinanzreform zu lösen. Als übereinstimmende Ueberzeugung der 
verbündeten Regierungen muß ich es aussprechen: Wir verlangen von diesem 
House eine feste und unzweideutige endgültige Entscheidung über die 
eichsfinanzreform, und noch in dieser Session. (Lebhafter Beifall.) Ich 
muß es auch offen aussprechen, daß die Schuld an den gegenwärtigen so 
unbefriedigenden Verhältnissen mehr oder weniger alle Parteien tragen. 
Herr Haußmann hat zwar gesagt, daß seine Partei in dieser Beziehung 
tadellos dastünde. Wenn man die Herren hier hört, dann steht natürlich 
jede Partei da, weiß und flecklos wie ein Lamm (Heiterkeit), in Wirklich- 
keit sind sie allzumal Sünder. (Große Heiterkeit; Zuruf: die Regierung 
auch!) Auch die Regierung hat Fehler gemacht, aber lange nicht so wie 
Sie. Die Rechte ist gegen eine angemessene Erbschaftsbesteuerung, und 
die Linke wehrt sich gegen die Form, unter der allein nach Ansicht aller 
Sachverständigen eine höhere Belastung des Spiritus möglich ist. So 
kann es nicht weitergehen. Wer es mit unsern Institutionen gut meint, 
muß Front machen gegen diese Verschleppungstaktik, gegen diese Hemmnis 
des Willens zur Tat. Es müssen endlich die großen Gesichtspunkte in 
den Vordergrund geschoben werden, die der großen Aufgabe entsprechen. 
Es ist davon gesprochen worden, daß dieser oder jener Abgeordnete 
sich in seiner Haltung beirren lasse durch die Sorge um seinen Wahlkreis. 
Davon kann doch im Ernst nicht die Rede sein. Ich kann nicht annehmen, 
daß irgend ein Mitglied dieses Hauses sich in seiner Entscheidung 
beeinflussen lassen könnte durch die Gefahr eines Mandatsverlustes. Solche 
lokalen Erwägungen müssen gegenüber der Größe der Aufgabe, müssen 
gegenüber dem Allgemeininteresse ebenso zur Ruhe verwiesen werden, 
wie die egoistische Interessenvertretung gewisser Erwerbsgruppen, die sich 
wider den Willen der Oeffentlichkeit mit einer einzig dastehenden Kühn- 
heit in den Vordergrund gedrängt hat. (Hört, hört! links.) Ich sage es 
mit dem vollen Ernst, den diese große Aufgabe verlangt, die Reichsfinanz- 
reform ist die wichtigste Aufgabe, die je diesem hohen Haus unterbreitet 
worden ist. Sie muß gelöst werden, sie muß schnell gelöst werden, wenn 
nicht anders unser Ansehen nach außen, unsere Kraft nach innen leiden 
soll, sie muß gelöst werden, wenn der Reichstag seine Stellung behaupten, 
wenn er zeigen will, daß er auch imstande ist, große Aufgaben nach großen 
Gesichtspunkten zu lösen, unbekümmert um kleine Sonderinteressen und
	        
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