Das Nensche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 20.) 135
3. Am 27. März ging die telegraphische Antwort Kaiser Wilhelms
auf dieses Telegramm nach St. Petersburg ab.
Aus diesen Daten ergibt sich, daß die Annahme des deutschen Vor-
schlages durch Rußland, und zwar unter Anerkennung der friedlichen und
freundlichen Absicht unseres Schrittes schon seit mehreren Tagen erklärt
war, bevor das Antworttelegramm Kaiser Wilhelms nach St. Peters-
burg abging.
Von dem, was der „Standard“ als Inhalt des nicht existierenden
Briefes Kaiser Wilhelms angibt, enthält das Telegramm nichts. Das
Telegramm erwähnt nichts davon, daß die Beziehungen zwischen Deutsch-
land und Rußland mit der neuen Politik der britischen Freundschaft nicht
vereinbar seien. Ebensowenig findet sich in dem Telegramm irgend eine
Andeutung darüber, daß Rußland sich entweder an England anlehnen und
verfassungsmäßige Bahnen einschlagen oder zur gepanzerten Faust und
zur Selbstherrschaft in ihrer vormaligen Reinheit zurückkehren müsse.“
20. April. (Berlin.) Der neue Moltke-Harden-Prozeß.
Der Angeklagte Maximilian Harden wurde wegen übler Nachrede
im Sinne des § 186 des Reichsstrafgesetzbuchs dem Antrage des Staats-
anwalts gemäß zu 600 Mark Geldstrafe verurteilt. In der Begründung
des Urteils heißt es u. a.: die mündliche Verhandlung habe ergeben, daß
der Angeklagte den Grafen Moltke direkt beschuldigte, sich homosexuell be-
tätigt zu haben. Bei der Strafzumessung komme in Betracht die Schwere
der Beleidigung, die die Stellung des Nebenklägers erschüttert habe, ander-
seits der Umstand, daß der Angeklagte durch Zeugen bewiesen habe, daß
Fürst Eulenburg sich homosexuell betätigte, daß der Angeklagte nicht aus
unlautern Motiven gehandelt habe, endlich daß zwischen dem Angeklagten
und dem Nebenkläger ein Vergleich geschlossen worden und der Nebenkläger
mit der Einstellung des Verfahrens einverstanden gewesen sei, wenn dies
prozessual zulässig wäre.
20. April. (Berlin.) Der Reichskanzler zur Finanzreform.
In Angelegenheiten der Reichsfinanzreform empfing der Reichs-
kanzler Fürst Bülow im Kongreßsaale des Reichskanzlerpalais die Depu-
tationen aus Bayern, Sachsen, Baden, Württemberg, Thüringen, sowie
die des Bundes der Industriellen. An dem Empfang nahmen teil: Staats-
sekretär Staatsminister v. Bethmann Hollweg, Sydow, sowie die Bevoll-
mächtigten zum Bundesrat der durch Deputation vertretenen Staaten. Die
Sprecher der Deputationen und Mitglieder derselben wurden durch Unter-
staatssekretär v. Loebell dem Reichskanzler einzeln vorgestellt. Hierauf hielt
der Vertreter Bayerns, Unterstaatssekretär v. Mayr die erste Ansprache.
Ihm folgte der Vertreter Sachsens Prof. Wuttke, dann Graf Linden für
Württemberg, Geheimrat Engler für Baden, Prof. Anschütz für Thüringen,
Geheimrat Wirth für den Bund der Industriellen und Kommerzienrat
Heilmann-Stuttgart für die Württembergischen Industriellen. Auf diese
ensprachen erwiderte der Reichskanzler mit folgender Rede:
Meine Herren! Sie haben sich vereinigt, um mir als dem obersten
Beamten des Reiches durch Adressen und mündliche Aussprachen Ihre
Sorge um die Reichsfinanzreform kundzumachen. Damit treten Sie als
Wortführer und Vertrauensmänner weiter Schichten des deutschen Volkes
auf. Sie sind hier nicht erschienen als Sprecher bestimmter Parteien,
weil Sie mit mir und allen, denen das Wohl des Vaterlandes am Herzen
liegt, die Reichsfinanzreform nicht als eine Parteifrage betrachten. Sie
wollen vielmehr Ihre Kundgebung angesehen wissen als eine Mahnung an