J.
Das Dentsche Reich und seine einzelnen Glieder.
2. Januar. Bei der Neujahrsgratulation der kommandie-
renden Generale verlas der Kaiser im Anschluß an die übliche
Besprechung über die militärische Lage Deutschlands einen Teil
eines Aufsatzes „Der Krieg der Gegenwart“ aus der „Deutschen
Revue“. Es wurde durch eine Indiskretion bekannt, daß der
frühere Chef des Generalstabes Graf Schlieffen Verfasser des zum
Teil auch die auswärtige Politik streifenden Artikels ist und daß
der Kaiser sich mit dem Inhalt der von ihm verlesenen militäri-
schen Ausführungen in völliger Uebereinstimmung erklärte. Daran
knüpft sich in der deutschen Preffe eine Erörterung über die Frage,
ob diese an die Oeffentlichkeit gelangte Kundgebung mit der Er-
klärung des Reichskanzlers vom 17. November vereinbar sei, daß
der Kaiser die Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung
der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit zu sichern versprochen
habe. Im Auslande werden die in dem Artikel des Grafen
Schlieffen enthaltenen Ausführungen über die politische Kon-
stellation der europäischen Staaten als Momente der Beunruhigung
erörtert.
Die interessantesten Stellen des vom Kaiser am Neujahrs-
tage verlesenen Artikels „Der Krieg der Gegenwart“ find folgende:
Da Deutschland von 62 Millionen Einwohnern jährlich 250000 Re-
kruten mit neunzehnjähriger Dienstzeit, Frankreich von 40 Millionen Ein-
wohnern 220000 Rekruten mit fünfundzwanzigjähriger Dienstpflicht ein-
stellt, so erhält für den Krieg ersteres 4750000, letzteres sogar 5500000
MannI Diese Zahlen sind auch, abgesehen von dem während langer Jahre
eintretenden Abgang, mehr oder weniger imaginär. Der Mann, der aus
der Kaserne in die Fabrik oder in die Kohlenzeche entlassen ist, kann sich
nach fünfzehn Jahren nicht mehr an die Taktik erinnern, die ihm auf dem
Paradeplatz seiner Garnison beigebracht worden ist. Das Gewehr, aus dem
der Landwehrmann als Rekrut auf dem Schießstande geschossen hat, ist
längst an einen schwarzen Krieger der Kolonialgebiete verhandelt worden.
Die neue Waffe, die ihm in die Hand gedrückt wird, betrachtet er mit dem
gleichen Mißtrauen, mit dem ein Grenadier des alten Dessauers an ein