Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

346 Das Veische Reich uud seine einfelnen Glieder. (November 30.) 
Der freisinnige Prediger Dr. Runze siegt über den bisherigen sozial- 
demokratischen Vertreter Hoffmann mit 349 gegen 331 Stimmen. 
30. November. Der Kaiser eröffnet den Reichstag im 
Weißen Saal des Königl. Schlosses mit folgender Thronrede: 
Geehrte Herren! Bei dem Eintritt in Ihre Beratungen entbiete 
Ich Ihnen, zugleich namens der verbündeten Regierungen, Gruß und 
Willkommen. Nachdem die in Ihrer letzten Tagung vereinbarte Steuer- 
esetzgebung dem Reiche neue Einnahmequellen erschlossen hat, muß be- 
harrich dahin gestrebt werden, die finanzielle Stellung des Reiches mit 
den so gewonnenen Mitteln zu befestigen. Der Ihnen zugehende Etats- 
entwurf für 1910 entspricht dieser Aufgabe. Ein Nachtragsetat für das 
laufende Jahr faßt die Rückstände aus den Jahren 1906 bis 1909 zu- 
sammen, die das Reich nach dem Finanzgesetz vom 15. Juli 1909 zu über- 
nehmen hat. Die Arbeiten des Bundesrats an der in einem Vorentwurfe 
bereits bekannt gegebenen Reichsversicherungsordnung nähern sich ihrem 
Abschlusse. Dieses Gesetz wird neben einer Vereinheitlichung des geltenden 
Rechts und Aenderungen in der Organisation die Krankenversicherung auf 
weitere Kreise ausdehnen und der Fürsorge für die arbeitenden Klassen 
die Hinterbliebenenversicherung hinzufügen. Ein neuer Gesetzentwurf wird 
die Vorschriften der nicht vollständig verabschiedeten Gewerbeverordnungs- 
novelle zusammenfassen, über welche zwischen den verbündeten Regierungen 
und dem Reichstag Einverständnis bestand. Daneben wird ein besonderes 
Gesetz über Hausarbeit vorgelegt werden. Außerdem wird Ihnen der 
Entwurf eines Stellenvermittlergesetzes zugehen. Die in der letzten Tagung 
gleichfalls nicht erledigten Entwürfe einer Strasprozeßordnung und einer. 
Novelle zum Gerichtsverfassungsgesetz über die Organisation der Straf- 
gerichte werden Ihnen von neuem unterbreitet werden. Unsere überseeischen 
Besitzungen in Afrika und der Südsee entwickeln sich erfreulich. Das An- 
wachsen der eigenen Einnahmen hat das Reich von Ausgaben für unsere 
Kolonien nicht unerheblich entlastet. Es wird Ihnen vorgeschlagen werden, 
die Usambarabahn bis zum Kilimandscharo fortzuführen und das süd- 
westafrikanische Bahnnetz auszurunden. Die Bahnbauten in Südwestafrika 
werden es ermöglichen, die Kopfstärke der im Schutzgebiete verwendeten 
Truppen weiter zu verringern. Die Zunahme der werktätigen Bevölkerung 
und die Erhöhung der Vermögenswerte in den Schutzgebieten machen eine 
Reform des Gerichtswesens erforderlich. Zunächst wird eine dritte Instanz 
in der Heimat zu errichten sein. Der Entwurf eines Kolonialbeamten-- 
gesedes wird Ihnen vorgelegt werden. Auch werden die Bezüge der 
olonialbeamten neu zu regeln sein, nachdem die Besoldungsreform im 
Reiche abgeschlossen worden ist. Das Gesetz vom 16. Dezember 1907 be- 
treffend die Handelsbeziehungen zum britischen Reiche tritt mit dem 31. De- 
zember d. J. außer Kraft. Es wird Ihnen ein Gesetzentwurf zugehen, 
durch den der Bundesrat ermächtigt werden soll, den bestehenden Zustand 
um weitere zwei Jahre zu verlängern. Auch ein Handelsvertrag zwischen 
dem Deutschen Reiche und Portugal wird Ihnen unterbreitet werden. Um 
dem deutschen Volke eine ruhige und kraftvolle Entwickelung zu sichern, 
ist Meine Regierung andauernd bemüht, friedliche und freundliche Be- 
iehungen zu den anderen Mächten zu pflegen und zu festigen. Mit Be- 
friedigung sehe Ich, daß das mit der französischen Regierung getroffene 
Abkommen über Marokko in einem Geiste ausgeführt wird, der den Zwecken, 
die beiderseitigen Interessen auszugleichen, durchaus entspricht. Im Deutschen 
Reiche ist ebenso wie in der österreichisch-ungarischen Monarchie dankbar 
der Zeit gedacht worden, als vor einem Menschenalter die später durch
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.