Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Ventsche Reitz und seine eintelnen Glieder. (Januar 25./26.) 31 
herantreten können. Man würde mir mit Recht Mangel an Gewissen- 
haftigkeit und Verantwortlichkeitsgefühl vorwerfen, wollte ich auf diesem 
wichtigen, für die künftige Entwickelung des Staats entscheidenden Gebiet 
einen Sprung ins Dunkle machen. Bei der dargestellten Lage der Vor- 
arbeiten werden Sie begreifen, wenn die Regierung es sich versagen muß, 
sich an der Beratung des Gegenstandes zu beteiligen. Ich werde aber 
Ihren Ausführungen und Vorschlägen mit Interesse folgen. Sollten die 
Beratungen neue Punkte für die Vervollständigung der von der Regierung 
betriebenen Vorarbeiten ergeben, so werde ich nicht anstehen, mir dieselben 
zunutze zu machen, soweit sie sich innerhalb der Erwägungen, in die die 
Regierung eingetreten ist, bewegen. 
Traeger (fri. Vp.): Es ist gewiß außerordentlich anerkennenswert, 
daß entgegen früheren Gepflogenheiten der Minister des Innern bei der 
Beratung der Wahlrechtsanträge die Initiative ergriffen hat. Aber in- 
haltlich hat er unserem Bedürfnisse nicht genügt und hat nur etwas er- 
zählt, was wir schon verschiedentlich vor längerer Zeit gehört haben. (Sehr 
wahr! links.) Ich gebe gern zu, daß es vorsichtig, daß es vielleicht ge- 
boten ist, gewisse statistische Erhebungen zu machen, aber in ihnen kann 
nicht das Entscheidende liegen, bei der Wahlrechtsreform ist vor allen 
Dingen eine prinzipielle Stellungnahme erforderlich. (Sehr wahr! links.) 
Man muß wissen, auf welchem Wege man vorwärts gehen will, ehe man 
nach dem speziellen Bedürfnis seine Vorarbeiten und Erhebungen einrichtet. 
(Sehr wahr! links.) Das Thema, das uns beschäftigt, ist seit Jahrzehnten 
oft behandelt worden. Noch am 10. Januar vorigen Jahres, also knapp 
vor Jahresfrist, habe ich die Ehre gehabt, diese Anträge hier zu begründen. 
Wir sahen damals dem Resultat der Beratung mit einiger Hoffnungs- 
freudigkeit entgegen. Der leitende Staatsmann im Reiche hat wiederholt 
erklärt, daß er den liberalen Anschauungen im Staatsleben mehr Rechnung 
tragen wolle. Er hatte den Liberalismus direkt zur Mitarbeit aufgefor- 
dert und eine Blütenlese von liberalen Gedanken entwickelt — das Wahl- 
recht war allerdings nicht darunter, aber da die Gedanken leicht beieinander 
wohnen, glaubten wir, daß auch dieser liberale Gedanke bei dem Reichs- 
kanzler seinen Platz finden werde. Wir wurden sehr bald enttäuscht. Am 
10. Januar hat dieser sonst so außerordentlich verbindliche, niemandem 
gänzlich die Hoffnung raubende Staatsmann eine direkte Absage in nichts 
weniger als freundlicher Form an uns gerichtet (sehr wahr! links), er er- 
klärte allerdings auch damals, daß er das preußische Wahlrecht auch jetzt 
noch für reformbedürftig halte. Dieses „auch jetzt noch“ ist charakteristisch; 
es bezieht sich auf die berühmte Wahlrechtsnovelle von 1906, die nirgend 
als nutzbringend oder irgendwie wichtig angesehen wurde, sondern auch mit 
wohlwollenden Augen nur als unzureichender Flicken auf einem alten 
Lappen angesehen werden kann. Die diesjährige Thronrede enthielt dann 
folgenden auf das Wahlrecht bezüglichen außerordentlich bemerkenswerten 
Passus: „Mit dem Erlaß der Verfassung ist die Nation in die Mitarbeit 
auch an den Geschäften des Staates eingetreten. Es ist Mein Wille, daß 
die auf ihrer Grundlage erlassenen Vorschriften über das Wahlrecht zum 
Hause der Abgeordneten eine organische Fortentwickelung erfahren, welche 
der wirtschaftlichen Entwickelung, der Ausbreitung der Bildung und des 
politischen Verständnisses, sowie der Erstarkung staatlichen Verantwortlich- 
keitsgefühls entspricht. Ich erblicke darin eine der wichtigsten Aufgaben 
der Gegenwart. Ihre Bedeutung für das gesamte Staatsleben erfordert 
umfassende Vorarbeiten, die von Meiner Regierung mit allem Nachdruck 
betrieben werden.“ „Eine der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart“ — 
hoffentlich beeilt die Krone nun die Wahlrechtsreform ebenso wie die Re-
	        
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