Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Tũrkei. (Januar Mitte — 29.) 577 
Mitte Januar. Zusammensetzung des Parlaments. 
Das türkische Parlament, das aus indirekten Wahlen hervor- 
gegangen ist, besteht aus 228 Mitgliedern. Davon sind 177 Mohammedaner, 
48 Christen und 3 Juden. Unter den Mohammedanern unterscheidet man 
107 Türken, 45 Araber, 22 Albanier, 2 Kurden und 1 Drusen. Die Christen 
zerfallen nach ihrer Nationalität in 27 Griechen, 10 Armenier, 5 Bulgaren, 
4 Serben, 1 Walachen und 1 Maroniten. Die große Majorität der Mohamme- 
daner (78 %) entspricht nicht ihrer Volkszahl, da diese nur auf 50 bis 60 % 
der Einwohnerschaft geschätzt wird. Unter den Griechen und Armeniern be- 
finden sich die anerkannten Autoritäten der Staats-, Rechts- und Finanz- 
wissenschaften. Anarchische und sozialistische Jdeen werden von einzelnen 
Bulgaren und Armeniern vertreten. Den Vormachtsansprüchen der türkischen 
Nationalisten setzen die Araber den Stolz auf ihre Kultur und die Albanier 
ihre Steuerprivilegien entgegen. Der schärfste Gegensatz besteht zwischen 
den Türken einerseits und den von ihnen als Reichsfeinde betrachteten 
Griechen und Bulgaren andererseits. 
Mitte Januar. An der Militärakademie zeigt sich eine große 
Erregung der radikalen jungtürkischen Elemente wegen der fried- 
liebenden Politik der Regierung und einzelner unbeliebter Einrich- 
tungen der Schulordnung. 
20. Januar. Das Ententenprotokoll. 
Die türkischen Blätter veröffentlichen den Wortlaut des aus neun 
Punkten bestehenden Protokollentwurfs über die österreichisch-un- 
garisch--türkischen Verhandlungen. In Artikel 5, der der Türkei 
völlige Freiheit in der Handels- und Zollpolitik zugesteht, verpflichtet sich 
Oesterreich-Ungarn, binnen zwei Jahren nach der Unterschrift des Ver- 
trages einen Handelsvertrag mit der Türkei abzuschließen und zwar nicht 
auf der Grundlage von Kapitulationen. Zu der ebenfalls bereits be- 
kannten Bestimmung über die Religionsfreiheit der in Bosnien und der 
Herzegowina lebenden Mohammedaner ist zu bemerken, daß in den Ge- 
beten nicht, wie die Blätter melden, der Name des Sultans, sondern der 
Name des Khalifen, als des religiösen Oberhauptes, genannt werden soll. 
Die Mohammedaner hängen wie früher vom Scheich ül Islam ab, dem 
das Recht der Ernennung der ersten Ulemas zusteht. Der Ausdruck 
Annexion fehlt im Entwurf, dafür ist Anerkennung des jetzigen Zustandes 
gesetzt worden. Das in den ursprünglichen österreichischen Vorschlägen er- 
wähnte Schutzrecht Oesterreichs über die katholischen Albanier ist in dem 
Entwurf nicht angeführt. Für die mohammedanische Bevölkerung in den 
annektierten Provinzen wird das Recht der Auswanderung auf türkisches 
Gebiet festgesetzt. 
29. Januar. Bulgarisch-türkische Verwickelung. 
Durch ein Rundschreiben der russischen Regierung wird den Mächten 
empfohlen, eventuell gegen Friedensstörungen einzuschreiten, wenn Bulgarien 
nicht freiwillig zurückweicht, und Grenzveränderungen zwischen Bulgarien 
und der Türkei abzuweisen. 
Gleichzeitig überreicht die Pforte den Mächten eine Note, worin sie 
jede Angriffsabsicht gegen Bulgarien in Abrede stellt und erklärt, daß sie 
mit Rücksicht auf die Finanzlage Bulgariens ihre frühere Forderung von 
150 Millionen auf 100 Millionen Franken ermäßigt. Es besteht nun- 
mehr nur noch ein Unterschied von 18 Millionen zwischen der Forderung 
und der früher schon von den Bulgaren angebotenen Summe. 
Europäischer Geschichtska'cnler. 1.9 37
	        
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