Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

üÜbersicht 
über die politische Entwickelung des Jahres 1911. 
War das erste Vierteljahr durch vollkommene Ruhe auf dem 
Gebiete der hohen Politik ausgezeichnet, so sollten dann die 
Expeditionen der Franzosen und Spanier in verschiedenen Teilen 
Marokkos eine Krifis heraufbeschwören, die auf den Gegensatz der 
englischen Diplomatie gegen die Geltendmachung deutscher Ansprüche 
selbst außerhalb der englischen Interessensphäre das grellste Schlag- 
licht warf und von Ende Juli bis Ende September die Gefahr 
eines europäischen Krieges wiederholt naherückte. Kaum war dieser 
Sturm vorüber, als Italien plötzlich die Eroberung von Tripolis 
ins Werk setzte und in China eine Revolution ausbrach, die dem 
nach der landläufigen Vorstellung konservativsten Lande der Welt 
eine republikanische Staatsform gab. Das Jahr 1911 war also 
reich an überraschenden Ereignissen. 
Die Durchführung des deutsch-französischen Abkommens über 
Marokko vom 8. Februar 1909 entsprach der Situation nicht mehr, 
als die Franzosen über den durch Deutschlands Bemühen als „un- 
abhängig“ anerkannten Sultan Mulay Hafid denselben Einfluß 
gewonnen hatten wie früher über seinen Bruder und Vorgänger 
Abdul Asis. Denn jetzt war die franzöfische Regierung entschlossen, 
die geheimen Verträge mit Großbritannien" und Spanien"““ von 1904 
auszunützen, um trotz der Algecirasakte von 1906 die franzöfische 
Herrschaft in Marokko dauernd zu etablieren, d. h. ein Protektorat 
über den größten Teil des Landes zu begründen. Daß die inter- 
nationale Akte von Algeciras dadurch verletzt wurde, war offen- 
kundig; aber es war doch fraglich, ob irgendeine der Signatar- 
mächte sich ernstlich einem fait accompli widersetzen würde, wenn 
S. 607 f. 
S. 602—604. Vgl. S. 590.
	        
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