üÜbersicht
über die politische Entwickelung des Jahres 1911.
War das erste Vierteljahr durch vollkommene Ruhe auf dem
Gebiete der hohen Politik ausgezeichnet, so sollten dann die
Expeditionen der Franzosen und Spanier in verschiedenen Teilen
Marokkos eine Krifis heraufbeschwören, die auf den Gegensatz der
englischen Diplomatie gegen die Geltendmachung deutscher Ansprüche
selbst außerhalb der englischen Interessensphäre das grellste Schlag-
licht warf und von Ende Juli bis Ende September die Gefahr
eines europäischen Krieges wiederholt naherückte. Kaum war dieser
Sturm vorüber, als Italien plötzlich die Eroberung von Tripolis
ins Werk setzte und in China eine Revolution ausbrach, die dem
nach der landläufigen Vorstellung konservativsten Lande der Welt
eine republikanische Staatsform gab. Das Jahr 1911 war also
reich an überraschenden Ereignissen.
Die Durchführung des deutsch-französischen Abkommens über
Marokko vom 8. Februar 1909 entsprach der Situation nicht mehr,
als die Franzosen über den durch Deutschlands Bemühen als „un-
abhängig“ anerkannten Sultan Mulay Hafid denselben Einfluß
gewonnen hatten wie früher über seinen Bruder und Vorgänger
Abdul Asis. Denn jetzt war die franzöfische Regierung entschlossen,
die geheimen Verträge mit Großbritannien" und Spanien"““ von 1904
auszunützen, um trotz der Algecirasakte von 1906 die franzöfische
Herrschaft in Marokko dauernd zu etablieren, d. h. ein Protektorat
über den größten Teil des Landes zu begründen. Daß die inter-
nationale Akte von Algeciras dadurch verletzt wurde, war offen-
kundig; aber es war doch fraglich, ob irgendeine der Signatar-
mächte sich ernstlich einem fait accompli widersetzen würde, wenn
S. 607 f.
S. 602—604. Vgl. S. 590.