Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

Nebersicht über die politische Entwichelung des Jahres 1911. 621 
geöffneten marokkanischen Hafen möglichst nah einem Gebiete, wo 
seine Interessen die anderer Mächte überwogen. Das war im Sus- 
gebiete, das an Eisenerzen reich und von deutschen Pionieren der 
Industrie „exploitiert“ war, allerdings der Fall, und es war 
sogar für die Diplomatie aller Länder vorteilhaft, daß das dort 
gelegene Agadir nur eine morastige Reede hat, die sich für die 
Anlage eines befestigten Kriegshafens oder einer Kohlenstation wenig 
eignet. Auch war gerade der geringe Gefechtswert des berühmt ge- 
wordenen Kanonenboots für England, Frankreich und Spanien ein 
deutlicher Fingerzeig, daß die Entsendung nur als Signal zu be- 
urteilen war, daß Deutschland allein unter allen Signatarmächten 
das Vorgehen der Franzosen vereiteln werde, wenn seine Zustim- 
mung nicht durch ihm angemessen erscheinende Kompensationen er- 
kauft würde. Daß diese Kompensationen im franzöfischen Kongo- 
gebiete zu finden seien, war nach den Besprechungen in Kissingen 
zwischen dem französischen Botschafter und dem deutschen Staats- 
sekretär des Außeren am 20. und 21. Juni (S. 125, 245, 420, 
453 ff.) in Paris unzweifelhaft. Aber der Sturz des Ministeriums 
Monis am 23. Juni brachte selbst in die schon dem formellen Ab- 
schluß nahen Verhandlungen über die Sicherung der wirtschaftlichen 
Interessen Deutschlands auf Grundlage des Abkommens von 1909 
neue, schikanös erscheinende Schwierigkeiten. Da bei längerem Warten 
die Penetrierung Marokkos weiter vorgeschritten wäre, so mußte 
etwas geschehen, was sich als Bremse der französischen Okkupation 
des ganzen scherifischen Reiches wirksam erweisen konnte, ohne ander- 
weitige Verhandlungsthemata zu prejudizieren. 
Der unmittelbare Eindruck der Demonstration auf die öffent- 
liche Meinung der beteiligten Länder war eine Gewähr dafür, daß 
die diplomatische Ankündigung an die Mächte (S. 129) cum grano 
Salis interpretiert werden würde. In der deutschen, spanischen und 
auch in der in Marokko erscheinenden englischen Presse drückte sich das 
Gefühl der Genugtuung darüber aus, daß dem einseitigen Vorgehen 
der Franzosen die Gleichberechtigung der anderen Mächte entgegen- 
gehalten wurde (S. 127 ff., 329, 561). In Frankreich sah man 
darin mit Recht eine etwas drastische Aufforderung der deutschen 
Diplomatie an die französische: „Kommt, lasset uns von Geschäften
	        
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