Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

Mebersicht über die volitische Eutwichelmun des Jahres 1911. 623 
bereit ist. Die „Times“ fügte am 20. Juli noch hinzu, Deutschland 
habe auch noch das franzöfische Vorkaufsrecht auf den belgischen 
Kongostaat verlangt (S. 594). 
Im direktesten Gegensatze zu der in Paris und London auf 
Grund der franzöfischen Indiskretionen angefachten Entrüstung über 
Deutschlands starke Forderungen stand die bei deutschen Kolonial-= 
enthufiasten verbreitete Uberzeugung, daß die Erwerbung des Sus- 
gebietes ein dringendes Interesse der deutschen Industrie sei und 
daß ein Stückchen Südmarokko höher bewertet werden müsse als 
das ganze franzöfische Kongogebiet, von dem die deutsche Diplomatie 
nur einen Teil verlangt hätte. Diese Bescheidenheit erklärte man 
sich, dem Schweigen der offiziösen Presse über die Verhandlungen 
entsprechend, aus der Zaghaftigkeit des Reichskanzlers, den sich 
regenden furor teutonicus aufzurufen, um entweder die strikte Ein- 
haltung der Algecirasakte oder die Aufteilung Marokkos zwischen 
Spanien, Frankreich und Deutschland zu erzwingen. Man ver- 
mutete, daß man in Berlin befürchte, Frankreich und das ihm be- 
freundete England könnten die Anregung einiger Blätter befolgen, 
auch ihrerseits Kriegsschiffe nach Agadir zu senden und dadurch 
die materielle Geringfügigkeit der Pantherentsendung darzutun. 
In diese Situation fiel die Rede des englischen Schatzmeisters 
Lloyd George im Mansion House vom 21. Juli (S. 354 f.). Es 
war der Form nach eine Friedensrede, die sich aber in ihrem letzten 
Drittel zu einem „Aber“ umkehrte, das unter gewissen von der 
Politik der kontinentalen Nationen abhängigen Bedingungen England 
„zwischen heute und dem nächsten Jahre“ den Krieg zur Pflicht machen 
könnte, zur Wahrung seiner „großen und wohltätigen Stellung“. 
Durch die späteren Eingeständnisse auf englischer und Mitteilungen 
von deutscher Seite wurde es klar bewiesen, daß es eine ungerecht- 
fertigte Drohrede war, die zur Einschüchterung der deutschen 
Diplomatie und zur Rückenstärkung Frankreichs dienen sollte. 
Denn vorher hatte an demselben Tage eine Unterredung zwischen 
dem deutschen Botschafter und Sir Edward Grey stattgefunden, 
in der das Anfinnen Englands, an den deutsch-französischen Ver- 
handlungen teilzunehmen, mit Vermutungen und Verdächtigungen 
begründet wurde, die der Botschafter und dann auch der Staats-
	        
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