Nebersicht über die politische Entwichelung des Jahres 1911. 641
betrachten. Der Fall des Kabinetts Luzzatti wegen des Kammer-
beschlusses, die von ihm vorgeschlagene Wahlrechtsreform zu vertagen,
gehörte mit zu den Vorbereitungen einer auf die Erwerbung von
Tripolitanien gerichteten Operation. Die bereitwillige Gewährung
von Krediten für Flotte und Heer am 25. Mai und 2. Juni hatte
eine Bedeutung, die nach der Rede des auswärtigen Ministers am
9. Juni (S. 460) nicht mehr zweifelhaft sein konnte.
Am 21. September begannen die „Vorsichtsmaßregeln“ gegen
Tripolis, die sich vier Tage darauf als ein Eroberungszug nach
Tripolitanien und der Cyrenaica entpuppten. Der Gang der diplo-
matischen und militärischen Operationen ist eingehender unter „Türkei“
(S. 511 —522) als unter „Italien“ (S. 464—468) gegeben. Daß
Deutschland am 29. September den Schutz der Italiener in der Türkei
und tags darauf den der Türken in Italien übernahm, ist S. 159 f.
notiert.
Obwohl sich die Eroberung ausgewählter Punkte der tripoli-
tanischen Küste keineswegs ohne Rückschläge vollzog, erklärte der
König bereits am 5. November die offizielle Annexion von Tripolis
und der Cyrenaica, also einen Tag nach der Unterzeichnung des
Marokkoabkommens in Berlin. Es kann kein Zweifel sein, daß der
große Zuwachs des französischen Kolonialreiches in Nordafrila das
Motiv der Italiener war, das letzte verfügbare Stück der nord-
atlantischen Küste an sich zu reißen.
Um es bei der Eroberungsfrage ausschließlich mit der in ihrer
letzten afrikanischen Provinz fast wehrlosen Türkei zu tun zu haben,
schränkte die italienische Regierung den Kriegsschauplatz möglichst ein.
Nicht nur die Balkanhalbinsel, sondern auch die ottomanischen Ge-
wässer im Adriatischen und Jonischen Meere wurden von den Feind-
seligkeiten ausgenommen und die Blockadeerklärung wurde England
zuliebe nachträglich sogar um 330 Kilometer verengert, weil der
Golf Solum zu Egypten gerechnet werden sollte (S. 464 f.). Einst-
weilen konnte Italien die Okkupation von Tripolis ohne Kriegs-
anleihe und ohne neue Steuern ins Auge fassen.
Die römische Kurie schritt auf dem Wege der Verschärfung
kirchlicher Ansprüche fort, indem sie für alle Geistlichen in katho-
Europäischer Geschichtskalender. LII. 41