Beutsches Reitz. (Januar 26.) 45
Gegenstand sehr großen Bedauerns (a matter of very great regret), denn
die Neutralität Belgiens berühre das Gefühl Englands (affected the feeling
in this country). Wenn Deutschland zu antworten vermöge, wie Frank-
reich geantwortet habe, so würde dies wesentlich dazu beitragen, die Aengst-
lichkeit und Spannung (tension) in England zu erleichtern. Andererseits,
wenn ein Kriegführender die belgische Neutralität verletze, während der
andere sie achte, werde es äußerst schwierig sein, das öffentliche Fühlen in
England zurückzuhalten. Fürst Lichnowsky stellte die Gegenfrage, ob im
Falle einer Verpflichtung Deutschlands, die belgische Neutralität zu achten,
England sich seinerseits zur Neutralität verpflichten wolle. Grey wich aus,
behauptete, die Hände der englischen Regierung seien noch frei und sie sei
im Begriff zu überlegen, was sie zu tun habe. Er könne nur sagen, daß
ihre Haltung in weitem Umfang durch die öffentliche Meinung bestimmt
werde, für welche die Neutralität Belgiens ein starkes Moment sei. Aber
er sei nicht der Meinung, daß allein auf Grund dieser Bedingung England
seine Neutralität zusagen könne. Der Fürst Lichnowsky stellte darauf die
dringende Frage, ob Grey nicht die Bedingungen formulieren könne, unter
denen England neutral bleiben werde. „He even sugsgested that the in-
tegrity of France and her colonies might be garantecd.“" (Er regte sogar
an. daß die Integrität Frankreichs und seiner Kolonien garantiert
werden könnte.) Aber Grey hatte darauf nur die Antwort: „Ifelt obliged
torefuse definitely any promise to remain neutral on simular
terms, and I could only say that we must keep our hands
fkree“ (ich fühlte mich verpflichtet, endgültig jedes Neutralitäts-
versprechen auf Grund solcher Bedingungen abzulehnen, und
ich konnte nur sagen, daß wir unsere Hände frei zu halten
wünschten). Also Sir Edward Greys eigener Bericht über diese Unter-
haltung vom Morgen des 1. August.
Deutschland ist in seinen Zugeständnissen, durch die es die englische
Neutralität ermöglichen wollte, sogar noch weiter gegangen. Der Reichs-
kanzler hat am 4. August 1914 im Reichstag mitgeteilt, er habe der eng-
lischen Regierung angeboten, „daß, solange sich England neutral verhält,
unsere Flotte die Nordküste Frankreichs nicht angreifen wird“ er hat hinzu-
gefügt, „daß, solange England neutral bleibt, wir auch bereit wären, im
Falle der Gegenseitigkeit keine feindlichen Operationen gegen die französische
Handelsschiffahrt vorzunehmen“.
Das englische Blaubuch erwähnt von diesen Zugeständnissen kein Wort.
Es entsteht die Frage, ob dieses Zugeständnis von Sir Edward Grey über-
haupt zur Kenntnis des Kabinetts gebracht worden ist. Daß die Unterlassung
nicht beim deutschen Botschafter in London gelegen haben kann, geht aus
dem französischen Gelbbuch (Nr. 144) hervor; dort berichtet Paul Cambon
unter dem 3. August, der deutsche Botschafter habe eine Mitteilung an die
Presse versandt, besagend, daß, wenn England neutral bleibe, Deutschland auf
jede Flottendemonstration verzichten und sich der belgischen Küste nicht als
Stützpunkt bedienen werde (I’Allemagne renoncerait à toute opération
navale et ne se servirait pas des cötes belges comme point d’'appui).
Deutschland hatte also für die Neutralität Englands die Integrität
Belgiens, Frankreichs und seiner Kolonien außerdem den Verzicht auf jede
Flottenaktion gegen die französische Küste und die französische Schiffahrt
angeboten; aber auch um diesen Preis, und auch nicht um irgendeinen
anderen, wie Sir Edward klar heraussagte, war die englische Neutralität
zu haben. „England will seine Hände freihalten" hieß aus der
Sprache des Cant in die Sprache der Aufrichtigkeit übersetzt:
England ist gegenüber Frankreich bereits gebunden.