Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Erste Hälfte. (56a)

48 Beutsches Reich. (Januar 26.) 
Verletzung der Neutralität Belgiens nicht dulden, im Kabinettsrat noch nicht 
durchgedrungen. 
Man mag nachträglich bedauern, daß es in jener Zeit nicht zu einem 
Ausfahren deutscher Kriegsschiffe und daraufhin zu einer feindlichen Aktion 
der englischen Flotte gekommen ist. Das Märchen, daß England lediglich 
durch die Verletzung der Neutralität Belgiens von seiten Deutschlands ge- 
zwungen worden sei, in den Krieg einzutreten, hätte dann nicht aufkommen 
können. 
Wie die Dinge sich entwickelten, wurde der von den maßgebenden 
Leitern der englischen Politik bereit gehaltene zweite Kriegsvorwand akut. 
Die deutsche Regierung sah sich auf Grund der sattsam bekannten Ver- 
hältnisse genötigt, von Belgien die Gestattung des Durchmarsches der deut- 
schen Truppen zu verlangen. Der König der Belgier wandte sich an den 
König von England mit der Bitte um diplomatische Unterstützung, um die 
Integrität Belgiens zu sichern. Die englische Regierung verlangte daraufhin 
von der deutschen Regierung eine sofortige Erklärung über die Respektierung 
der belgischen Neutralität (Blaubuch Nr. 153). Der deutsche Botschafter 
machte einen letzten Versuch, indem er der englischen Regierung den Text 
eines Telegramms des Auswärtigen Amts mitteilte, in dem er ersucht wurde, 
in der positivsten Form die Erklärung zu wiederholen, daß selbst im Falle 
eines bewaffneten Konflikts Deutschland unter keinem Vorwand irgend- 
welcher Art belgisches Territorium annektieren werde. Es hieß in diesem 
Telegramm weiter: „Please impress upon Sir E. Grey that German army 
could not be exposed to French attack across Belgium, which was 
planned according to absolutely unimpeachable informations“ (bitte bei 
Sir Edward Grey nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß die deutsche Armee 
nicht irgendeinem französischen Angriff über Belgien, der nach absolut un- 
fehlbaren Informationen geplant ist, ausgesetzt werden darf) (Blaubuch 
Nr. 157). 
Auch dieser letzte Versuch scheiterte. Die englische Regierung stellte 
noch am Abend des 4. August ein um Mitternacht ablaufendes Ultimatum, 
zu einer Zeit, als deutsche Truppen die belgische Grenze bereits überschritten 
hatten. Der Krieg mit England war dat 
Daß England in den Krieg auch ohne jede Verletzung der belgischen 
Neutralität durch Deutschland eingetreten wäre, bekraef nach der im Vor- 
stehenden dargestellten Entwicklung der französisch-englisch-deutschen Ver- 
handlungen in der kritischen Woche keines weiteren Beweises. Die ver- 
antwortlichen Leiter der englischen Politik hatten England auf 
Grund der formell zunichts verpflichtenden Entente mit Frank- 
reich in den seit der Ueberreichung der österreichisch-ungarischen 
Note an Serbien verflossenen Tagen so stark für ein sofortiges 
bewaffnetes Eingreifen an der Seite Frankreichs engagiert, 
daß nur um den Preis des Sturzes des britischen Kabinetts 
und um den Preis des Vorwurfs der Perfidie England dem 
Krieg hätte fern bleiben können. 
Daß die Leute, die England in diese Lage geführt hatten, ihre Rech- 
nung dabei fanden, den Vorwand der Verletzung der belgischen Neutralität, 
von dem sie sich eingestandenermaßen eine starke Wirkung auf die öffent- 
liche Meinung versprachen, nach Kräften zur Deckung der eigenen Ver- 
antwortlichkeit auszunutzen, steht auf einem anderen Brett. Wie unaufrichtig 
dieser Vorwand war, ist oft genug nachgewiesen worden. Es sei in dieser 
Beziehung auf die in Brüssel von den deutschen Behörden beschlagnahmten 
Dokumente aufmerksam gemacht, aus denen sich ein Zusammenwirken der 
belgischen und englischen Militärbehörden ergibt, das dem das Wesen der
	        
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