Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Erste Hälfte. (56a)

50 Beutsches Reich. (Januar 26.) 
diesen Entschluß dem russischen Botschafter in Wien mitgeteilt hatte. Ruß- 
land hat also durch die allgemeine Mobilmachung den Krieg herauf- 
beschworen in einem Augenblick, in dem die Hoffnung auf Erhaltung 
des Friedens durch einen versöhnlichen Schritt Oesterreich-Ungarns wieder 
auflebte. 
3. Rußland war nach seiner eigenen Erklärung von Anfang der Krisis 
an entschlossen, alle Risiken eines Krieges auf sich zu nehmen, wenn es 
der Hilfe Frankreichs sicher sei. Die Zusage der unbedingten Waffenhilfe 
Frankreichs hat Rußland am 29. Juli abends erhalten, aller Wahrschein- 
lichkeit nach verbunden mit der Mitteilung, daß Frankreich England an 
seiner Seite haben werde. 
4. Frankreich hat eine Zusage der unbedingten Waffenhilfe für Ruß- 
land erst gegeben, nachdem die französische Regierung der Mitwirkung 
Englands versichert zu sein glaubte. Die Gewißheit der Waffenhilfe Eng- 
lands erhielt die französische Regierung durch die Eröffnung, die der britische 
Staatssekretär des Auswärtigen am Vormittag des 29. Juli dem französi- 
schen Botschafter über die von ihm beabsichtigte Absage an den deutschen 
Botschafter gemacht hatte. 
Die für die Politik Englands maßgebenden Persönlichkeiten waren 
durch 2 Entente mit Frankreich von vornherein innerlich gebunden und 
sind im Laufe der kritischen Woche, wenn sie nicht vorher bereits entschlossen 
waren, zu dem Entschluß gekommen, unter allen Umständen bei einer Ver- 
wicklung Frankreichs in den Krieg einzugreifen. 
6. Die für die englische Politik maßgebenden Personen waren ferner 
der durchaus zutreffenden Ansicht, daß ein Krieg aus Anlaß der serbischen 
Frage nicht die Billigung der öffentlichen Meinung finden werde. Deshalb 
richteten sie ihre Anstrengungen darauf, einen für die englische öffentliche 
Meinung annehmbaren Rriegsvorwand zu finden. Als solcher bot sich die 
Verletzung der belgischen Neutralität, die jahrelang vorher von Belgien 
selbst kompromittiert war und deren Achtung für den Ernstfall nach den 
eigenen Erklärungen des englischen Militärattachés in Brüssel seitens des 
englischen Generalstabes nicht beabsichtigt war. 
Wie sehr die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutsch- 
land lr das britische Kabinett nur ein Vorwand war, ergibt sich daraus, 
daß vor der Stellung des englischen Ultimatums an Deutschland wegen 
Belgiens der englische Staatssekretär des Auswärtigen dem französischen 
Botschafter sormell erklärt hatte, daß England das Durchfahren des Kanals 
oder der Nordsee durch die deutsche Flotte als casus belli behandeln werde. 
Auf Grund dieser unbestreitbaren, durch die offiziellen 
Veröffentlichungen der Dreiverbandsregierungen selbst be- 
stätigten Zusammenhänge wird vor dem Richterstuhl der Ge- 
schichte die Behauptung, daß Deutschland den Krieg gewollt 
und verursacht habe, in nichts zerfallen. Rußland ist als der 
Brandstifter, Frankreich und England sind als die Mitschul- 
digen erwiesen. 
Es liegt nicht im Rahmen dieser Darstellung, in den Urgrund der 
verhängnisvollen Verkettung von Einzelvorgängen und Einzelhandlungen 
hinabzusteigen, die in den Tagen vom 24. Juli bis zum 4. August den 
größten und blutigsten Krieg der Weltgeschichte heraufbeschworen haben. 
Es genüge die Andeutung, daß diese Einzelvorgänge und Einzelhandlungen, 
daß die Worte eines Grey, eines Cambon und Ssasonow, daß die Hand- 
lungen des Ersten Lords der britischen Admiralität und des russischen 
Generalissimus — Worte und Handlungen, die an sich gegenüber der großen 
Menschheitstragödie klein erscheinen mögen — nur die in der entscheidenden
	        
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