Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Erste Hälfte. (56a)

Veutsches Reich. (Januar 26.) 51 
Zeit an die Oberfläche getretenen Manifestationen der Kräfte sind, deren 
Walten die Weltgeschichte unserer Zeit ansmacht: 
Bei Rußland der Drang nach der Vorherrschaft im nahen Orient, 
doppelt stark seit der Niederlage im Krieg mit Japan, und entschlossen, 
bei Aussicht auf Erfolg jeden Widerstand der Zentralmächte gewaltsam 
zu brechen. 
Bei Frankreich die verhängnisvolle Orientierung der Gesamtpolitik 
nach dem negativen Pol des mit Furcht gepaarten unversöhnlichen Re- 
vanchedurstes, auslaufend in die immerwährende Bereitschaft, mit jedem 
starken Gegner Deutschlands gegen uns zu marschieren. 
Bei England der Handelsneid gegen jede aufstrebende Wirtschaft, dazu 
die instinktive Gegnerschaft zur stärksten Kontinentalmacht und die Tradition 
der gewaltsamen Unterdrückung jedes kontinentalen Strebens nach See- 
geltung. 
Diese heterogenen Kräfte baben das Netzwerk der Entente gesponnen, 
das der kleinen Minderheit der den Krieg entschlossen Wollenden zum furcht- 
baren Werkzeug wurde, und in dem die große friedliche Mehrheit der Völker 
Rußlands, Frankreichs und Englands sich rettungslos verfing: Rußlands 
Stellungnahme zu Oesterreich-Ungarn in der serbischen Frage stellte die 
Entente vor die entscheidende Belastungsprobe; es ist kein Zweifel, daß ein 
Vort der Weigerung Frankreichs genügt hätte, die Kriegspartei in Ruß- 
land niederzuhalten; es ist zum mindesten sehr wahrscheinlich, daß ein Wort 
der Weigerung Englands Frankreich zurückgehalten haben würde; es ist 
unbedingt sicher, daß jedes Wort der Ermutigung von seiten Englands den 
Kriegsparteien in Frankreich und Rußland das Uebergewicht verschaffen 
mußte. Auf der anderen Seite ist ebenso gewiß, daß ein Sich--Entziehen 
Frankreichs oder Englands, mochte das Beiseitestehen in den Verträgen 
und Absprachen noch so sehr seine formelle Berechtigung finden, das drei- 
fache Einvernehmen gesprengt und eine Neuorientierung der gesamten euro- 
päischen Politik zur Folge gehabt hätte, eine Neuorientierung, die nicht zu 
einer Vorherrschaft eines einzelnen Staates hätte führen müssen, bei der 
vielmehr jede Macht zu ihrem Rechte hätte kommen können. 
In der Wahl zwischen der Erhaltung der Entente und Erhaltung des 
Weltfriedens haben die leitenden britischen und französischen Staatsmänner, 
durch langjähriges eigenes Tun und Reden innerlich unfrei und befangen, 
unter dem Druck der kriegslüsternen Cliquen den Weltfrieden der Entente 
geopfert und den überragenden Teil der öffentlichen Meinung ihrer Länder 
durch die Berufung auf die Heiligkeit der geschriebenen und ungeschriebenen. 
Verträge mit sich fortgerissen. 
Diese Verflechtung von Schuld und Verhängnis im einzelnen klar- 
zustellen und darzulegen, wird dereinst die große Aufgabe der Geschichts- 
schreiber unserer Zeit sein. 
26. Jan. Gnadenerlasse des Kaisers: 
Ich will anläßlich der ruhm- und opferreichen Kämpfe dieses Feldzuges 
an meinem Geburtstage allen Militärpersonen des aktiven Heeres, 
der aktiven Marine und der Schutztruppen — soweit nicht einem 
der Hohen Bundesfürsten das Begnadigungsrecht zusteht — die gegen sie 
von Militärbefehlshabern verhängten Disziplinarstrafen sowie die von Mi- 
litärgerichten des preußischen Kontingents oder vom Gouvernementsgericht 
Ulm verhängten Geld- und Freiheitsstrafen beziehungsweise den noch nicht 
vollstreckten Teil derselben aus Gnade erlassen, sofern die ihnen auferlegten 
Freiheitsstrafen sechs Monate nicht übersteigen. Ausgeschlossen von der Be- 
gnadigung sollen jedoch die Personen sein 1. die unter der Wirkung von 
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