Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Erste Hälfte. (56a)

Beutsches Keicz. (Januar 26.) 31 
null und ein Krieg wegen dieses Landes werde niemals durch 
die englische öffentliche Meinung sanktioniert werden.) 
Wie der französische Botschafter sich gegenüber Herrn Ssasonow ver- 
hielt, ist nicht einwandfrei festzustellen, denn das französische Gelbbuch 
enthält bezeichnenderweise über diese wichtige Unterhaltung keinen Bericht, 
und Sir G. Buchanan beschränkt sich in seinem Bericht zu sagen, sein 
französischer Kollege habe ihm „zu verstehen gegeben“ (gave me to under- 
stand), Frankreich werde alle Verpflichtungen erfüllen, die in seiner Allianz 
mit Rußland gegeben seien. Eine solche Haltung ließ die Neutralität 
Frankreichs in einem russischen Angriffskrieg offen. In der Tat hat Frank- 
reich, wie wir sehen werden, erst in einem späteren Stadium der russischen 
Regierung die Zusage der unbedingten Waffenhilfe gegeben. 
Wir wollen nun betrachten, wie die Haltung Frankreichs und Eng- 
lands sich entwickelt hat. 
Frankreich. 
Die französische Regierung befand sich offenbar in einem recht schweren 
Dilemma. Einerseits war ihre ganze Politik seit Jahrzehnten auf den 
engsten Anschluß an Rußland abgestellt; andererseits wog die Verantwor- 
tung, in der schlechten serbischen Sache sich unbedingt auf die Seite Ruß- 
lands zu stellen und allein mit Rußland einen Krieg mit Deutschland und 
Oesterreich-Ungarn zu riskieren, zu schwer. 
Die französischen Staatsmänner waren dementsprechend von einer 
dovvelten Furcht bewegt: einmal von der Furcht, bei der russischen Re- 
gierung Mißtrauen zu erregen und Frankreich durch eine Lockerung der 
französisch-russischen Beziehungen zu isolieren; zweitens durch die Furcht, 
in einem Krieg gegen Deutschland und Oesterreich-Ungarn mit Rußland 
allein zu stehen. 
Die Wirkung der erstgenannten Befürchtung war, daß die französische 
Regierung sich weigerte, in Petersburg irgendeine Einwirkung in fried- 
lichem Sinne zu versuchen, die dort als ein Abrücken Frankreichs von 
Rußland hätte aufgefaßt werden können. Die verschiedenen dringenden 
Schritte, die der deutsche Botschafter nach der Ueberreichung der österreichisch- 
ungarischen Note an Serbien in Paris unternahm, um dem französischen 
Kabinett den Ernst der Situation vor Augen zu führen und darauf hin- 
zuweisen, wie notwendig ein mäßigender Einfluß Frankreichs in Peters- 
burg sei, wurden stets mit dem größten Mißtrauen ausgenommen und als 
VBersuche, einen Keil zwischen Frankreich und Rußland zu treiben, beargwöhnt. 
Als nach der Ueberreichung des österreichisch-ungarischen Ultimatums 
der deutsche Botschafter in Paris der französischen Regierung die korrekte 
und loyale Erklärung abgab, daß die deutsche Regierung die Angelegenheit 
als eine ausschließlich zwischen Oesterreich-Ungarn und Serbien zu regelnde 
betrachte und die Lokalisierung des Konflikts dringend wünsche, da jede 
Intervention einer anderen Macht durch das natürliche Spiel der bestehen- 
den Allian zen unberechenbare Konsequenzen herbeiführen könne, war der 
Biderhall dieser Mitteilung ein Artikel in dem „Echo de Paris“, dessen. 
intime Beziehungen zum Quai d'Orsay bekannt sind. In diesem Arrtikel 
wurde der Schritt des deutschen Botschafters als eine „menace allemande“ 
gebrandmarkt (Gelbbuch Nr. 36). 
Als zwei Tage später, am 26. Juli, der deutsche Botschafter der fran- 
zösischen Regierung anheimstellte, bei der russischen Regierung im Sinne 
des Friedens zu intervenieren, und hinzufügte, daß Oesterreich-Ungarn nach den 
an Rußland abgegebenen Erklärungen weder eine territoriale Vergrößerung 
noch eine Beeinträchtigung der Integrität Serbiens, sondern nur seine
	        
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