Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Erste Hälfte. (56a)

32 Denishes Reit. (Januar 26.) 
eigene Sicherheit erstrebe, war die Antwort, Rußland habe nichts getan, 
was Anlaß zum Zweifel an seiner Mäßigung gebe; aber Deutschland möge 
in Wien intervenieren, um militärische Operationen gegen Serbien zu ver- 
hindern (Gelbbuch Nr. 56). Und als der deutsche Botschafter, gewarnt durch 
das Verhalten des „Echo de Paris“, den Vorschlag machte, über die Be- 
sprechung eine Notiz an die Presse zu geben, in der gesagt wurde, daß er 
in einer neuen Unterhaltung mit dem Minister des Aeußern die Mittel 
zur Erhaltung des Friedens im freundschaftlichsten Geist und im Gefühl 
der friedlichen Solidarität geprüft habe, da erregte der Gedanke an die 
öffentliche Bekundung einer „solidarité pacifigue“ mit Deutschland einen 
wahren Schrecken (Gelbbuch Nr. 57), und die vom deutschen Botschafter 
vorgeschlagene Notiz wurde schließlich ohne den verdächtigen Ausdruck der 
Solidarität und des freundschaftlichen Geistes der Presse mitgeteilt. — 
„Cette rédaction. volontairement terne, évitait une solidarite avec 
IAllemagne qui pourrait estre mal interpretée“ (diese absichtlich farblose 
Redaktion vermied eine Solidarität mit Deutschland, die falsch ausgelegt 
werden könnte). So zu lesen in einer Zirkularnote, die das französische 
Ministerium des Auswärtigen über diesen wichtigen Fall an ihre auslän- 
dischen Missionen richtete (Gelbbuch Nr. 62). Dieselbe Zirkularnote fügt 
hinzu, die wahrscheinliche Auslegung des Schrittes des Herrn von Schoen 
sei, daß er versuche, Frankreich in den Augen Rußlands zu kompromittieren 
(à compromettre la France au regard de la Russie). Der französische 
Minister des Auswärtigen p. i. verkündete in einer weiteren Zirkularnote 
vom 29. Juli seinen Stolz, daß der deutsche Botschafter vergeblich versucht 
habe, Frankreich in eine solidarische deutsch-französische Aktion in Peters- 
burg hineinzuziehen (a vainement tenté de nous entrainer dans une action 
solidaire franco-allemande à Petersbourg). Er wiederholt die Behauptung, 
daß die russische Regierung die größten Beweise ihrer Mäßigung gegeben 
habe und daß Rußland in keiner Weise den Frieden bedrohe, daß dagegen 
in Wien gehandelt werden müsse und alle Gefahr aus Wien komme (Gelb- 
buch Nr. 85). 
Aus keinem Dokument des französischen Gelbbuchs und ebensowenig 
aus dem russischen Orangebuch und dem englischen Blaubuch ergibt sich, 
daß Frankreich in irgendeinem Stadium gewagt hätte, der russischen Re- 
gierung einen ernstlichen Rat im Sinne des Friedens zu erteilen; es sei 
denn, daß man den Ausdruck des Wunsches, Rußland möchte Maßnahmen 
vermeiden, die Deutschland einen Vorwand zur Mobilmachung geben 
könnten (Gelbbuch Nr. 102), als eine aufrichtige Vermittlungstätigkeit im 
Sinne des Friedens ansehen will, während solche Wünsche in Wirklichkeit 
wohl richtiger als taktische Fingerzeige aufgefaßt werden, um Deutschland 
solange hin zuhalten, bis die von Frankreich in jener Zeit mit allen Mitteln 
angestrebte Sicherung der Waffenhilfe Englands erreicht war. 
Der unbedingten Sicherung der englischen Bundesgenossenschaft, nicht 
irgendwelcher Vermittlungstätigkeit, galten in jenen kritischen Tagen die 
Bemühungen der französischen Diplomatie, und solange dieses Ziel nicht 
erreicht war, wurde auch das entscheidende Wort gegenüber Rußland nicht 
gesprochen. Mag aus dem französischen Gelbbuch hundertmal der Eindruck 
sich ergeben, als ob die französische Hilfe für Rußland selbstverständlich 
gewesen sei, so selbstverständlich, daß eine besondere Erklärung hierüber 
an Rußland — die man im Gelbbuch vergeblich suchen würde — über- 
haupt nicht nötig gewesen wäre, — das Orangebuch des russischen Ver- 
bündeten weiß es besser. In diesem ist ein telegraphischer Erlaß Ssasonows 
an Iswolsky vom 29. Juli abgedruckt (Orangebuch Nr. 58), und zwar als 
letztes der vom 29. Juli datierten zehn Dokumente, so daß man annehmen
	        
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