Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

812 Großbritannien. (August 26.) 
1. Der belgische Bericht über die Besprechung mit dem englischen 
Militärattaché wurde im letzten Herbst von deutscher Seite veröffentlicht, 
um zu beweisen, daß Belgien seine Neutralität an uns verkaufte und mit 
uns eine Verschwörung gegen Deutschland betrieb. Die Unterredung, aus 
der zu diesem Zweck das größte Kapital geschlagen wurde, wurde dem 
Ministerium des Aeußern nicht mitgeteilt, ebensowenig dem Kriegsamt, wie 
aus den Archiven hervorgeht. Wir haben zuerst den Bericht über die 
Unterredung gesehen, als Deutschland sie veröffentlichte. Daraus geht deutlich 
hervor, daß sie nur auf den Fall Bezug nahm, daß Belgien angegriffen 
werden würde. Eine Landung englischer Truppen in Belgien sollte nur 
stattfinden, nachdem Deutschland in belgisches Gebiet eingefallen sei. Die 
englische Regierung wurde zu nichts verpflichtet. Es bestand keine Ab- 
machung und Uebereinkunft zwischen der britischen Regierung und Belgien. 
Warum erwähnt der deutsche Reichskanzler diese informellen Besprechungen 
im Jahre 1906 und läßt er völlig beiseite, daß ich 1913 dem belgischen 
Gesandten sehr kategorisch sagte, daß wir hinsichtlich Belgiens und anderer 
neutraler Länder wünschten, daß ihre Neutralität beachtet werden sollte, 
und daß wir, solange diese nicht durch eine andere Macht verletzt würde, 
sicher keine Truppen nach ihrem Gebiete senden würden. Man muß sich 
erinnern, daß der erste Gebrauch, den Deutschland von dem belgischen 
Schriftstück machte, darin bestand, Belgien eine unaufrichtige Haltung 
gegenüber Deutschland vorzuwerfen. Was ist nun die Wahrheit? Am 
29. Juli 1914 versuchte der deutsche Reichskanzler uns durch das Ver- 
sprechen zukünftiger belgischer Unabhängigkeit dazu zu bestechen, daß wir 
uns bei Ausbruch des Krieges an der Verletzung der belgischen Neutralität 
durch Deutschland beteiligen sollten. Er nannte den belgischen Vertrag 
einen Fetzen Papier. Der deutsche Staatssekretär des Aeußern erklärte, 
Deutschland müsse durch Belgien marschieren, um Frankreich anzugreifen. 
Es habe nicht die Zeit, um anders vorzugehen. Es ist notwendig, die 
Erklärung des Herrn v. Jagow nochmals anzuführen. Die Koeiserliche 
Regierung mußte auf dem schnellsten und leichtesten Wege nach Frankreich 
einmarschieren, um mit den Operationen rasch vorwärts zu kommen, und 
danach trachten, so schnell wie möglich zu einem entscheidenden Schlage 
auszuholen. Es bedeutete für die deutsche Sache Leben oder Tod, da die 
Deutschen, wenn sie den südlichen Weg eingeschlagen hätten, infolge Straßen- 
mangels und der Stärke der Festungen nicht ohne heftigen Widerstand, der 
mit großem Zeitverlust gleichbedeutend war, durchgekommen wären. Dieser 
Zeitverlust würde für die Russen ein Zeitgewinn gewesen sein, um Truppen 
nach der deutschen Grenze zu bringen. Die Schnelligkeit des Vorgehens 
wäre ein großer Gewinn für die Deutschen, während Rußlands Vorteil in 
dem unerschöpflichen Vorrat an Truppen lag. Im Reichstag erklärte der 
deutsche Reichskanzler am 4. August 1914 über die Verletzung der Neutralität 
Belgiens und Luxemburgs: „Das Unrecht, ich spreche es offen aus, das 
wir damit tun, werden wir wieder gutmachen, sobald unser militärisches 
Ziel erreicht ist.“ Die Verletzung der belgischen Neutralität war also wohl 
erwogen, obwohl Deutschland die Neutralität tatsächlich garantiert hatte, 
und es gibt sicher nichts Verächtlicheres und Niedrigeres als den Versuch, 
sie ex post facto zu rechtfertigen, indem man der unschuldigen, harmlosen 
belgischen Regierung und dem belgischen Volke den gänzlich falschen Vor- 
wurf machte, daß sie gegen Deutschland ein Komplott geschmiedet hätten. 
Der Reichskanzler legt in seiner letzten Rede nicht den Nachdruck auf diese 
Anklage, die gegen Belgien erhoben worden ist. Ist die Anklage zurückgezogen, 
und wenn ja, will Deutschland das grausame Unrecht, das es Belgien angetan 
hat, gutmachen?
	        
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