Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

832 Großbritannien. (September 29.) 
29. Sept. (Unterhaus.) Grey über Bulgarien und die Lage 
auf dem Balkan. Erörterung über Freihandel. 
Grey führt aus: Die offiziellen Erklärungen der bulgarischen Re- 
gierung lauten, daß sie bewaffnete Neutralität eingenommen habe, um 
ihre Rechte der Unabhängigkeit zu verteidigen und daß Bulgarien 
absolut keine Angriffspläne gegen seine Nachbarn hege. Es ist vielleicht 
nicht unnötig, daß ich kurz unsere Auffassung über die Lage auf dem 
Balkan auseinandersetze. Im allgemeinen besteht in England keinerlei 
Feindschaft gegen Bulgarien, sondern es herrscht eine warme und traditio- 
nelle Sympathie für das bulgarische Volk. Solange sich also Bulgarien 
nicht auf die Seite der Feinde Englands und seiner Bundesgenossen 
stellt, kann nicht die Rede davon sein, daß britischer Einfluß oder britische 
Streitkräfte benützt werden auf einer für die bulgarischen Interessen 
feindlichen Seite, und solange die Haltung Bulgariens nicht aggressiv ist, 
werden die Freundschaftsbeziehungen nicht gestört werden. Wenn jedoch 
die Folge der Mobilmachung in Bulgarien die ist, daß das Land eine 
aggressive Haltung an der Seite unserer Feinde einnimmt, dann sind 
wir bereit, unseren Freunden auf dem Balkan alle Hilfe zu leihen, 
soweit wir können, und zwar in einer Weise, die sich am besten mit der 
Uebereinstimmung mit unseren Bundesgenossen verträgt, wobei wir keinerlei 
Vorbehalte machen. Wir tauschen natürlich mit unseren Verbündeten Ge- 
danken über die Lage aus, und ich glaube, daß die Ansicht, die ich 
äußere, auch die Ihrige ist. 
Unsere Politik geht darauf aus, eine Uebereinkunft zwischen den 
Balkanstaaten zustande zu bringen, die jedem von ihnen nicht allein die 
Unabhängigkeit, sondern auch eine glänzende Zukunft zusichern soll, und 
dieses Uebereinkommen soll auf dem allgemeinen Prinzip der Territorialität 
und der Einheit verwandter Nationalitäten begründet sein. Um diese Ueber- 
einkunft zu verwirklichen, haben wir anerkannt, daß die berechtigten An- 
sprüche aller Balkanstaaten erfüllt werden müssen. Die Politik Deutsch- 
lands dagegen ist darauf gerichtet, im eigenen Interesse Uneinigkeit und 
Krieg zwischen den Balkanstaaten zu säen. Es hat erst Oesterreich-Ungarn 
vorgespannt, um Europa in den Krieg zu stürzen, mit der Folge, daß 
Oesterreich nun vollständig Deutschland unterworfen und von Deutschland 
abhängig ist. Die Türkei, deren Interessen bei der Aufrechterhaltung der 
Neutralität beteiligt waren, ist durch Deutschland eigenmächtig zur Teil- 
nahme an dem Krieg gezwungen worden und ist nun ebenfalls abhängig 
von Deutschland, das danach strebt, Einfluß auszuüben von Berlin bis 
Bagdad. In dieser Weise wird jeder Balkanstaat, den Deutschland unter 
seinen Einfluß bringen könnte, ge zwungen werden, diesen Plan verwirklichen 
zu helfen mit der unvermeidlichen Folge, daß die Staaten sich Deutschland 
unterwerfen und ihre wirkliche Unabhängigkeit verlieren trotz aller Vor- 
spiegelungen einer Gebietserweiterung, die ihnen in Aussicht gestellt wird. 
Die Politik steht direkt derjenigen der Verbündeten gegenüber, die das 
nationale Bestreben der Balkanstaaten fördern will, ohne die Unabhängig- 
keit eines von ihnen zu opfern. 
Ferner findet eine Erörterung über die Frage des Freihandels 
statt. Ein Mitglied nach dem andern protestiert gegen die neuen Einfuhr- 
zölle. Der Finanzminister gibt in verschiedenen Punkten nach. Ambulanz- 
wagen sollen z. B. zollfrei eingeführt werden. Bonar Law lehnt für seine 
Person jede besondere Verantwortung für die Einfuhrzölle ab, die von der 
Regierung beschlossen worden wären, auch wenn ihr kein einziger Tory 
angehörte.
	        
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