Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

954 Italien. (Mai 5.) 
über eine wohlwollende Neutralität, welches durch den Vertrag vorgesehen 
war, fand sich durch diese Verletzung beeinträchtigt. Tatsächlich kommen 
Ueberlegung und Gefühl dahin überein, die Aufrechterhaltung einer wohl- 
wollenden Neutralität auszuschließen, wenn einer der Verbündeten zu 
den Waffen greift zur Verwirklichung eines Programms, welches den 
Lebensinteressen des anderen Verbündeten strikt zuwiderläuft, und zwar 
den Interessen, deren Wahrung den Hauptgrund gerade dieses Bündnisses 
bildete. 
Nichtsdestoweniger hat Italien sich mehrere Monate hindurch bemüht, 
eine Lage zu schaffen, welche der Wiederherstellung freundschaftlicher Be- 
ziehungen zwischen den beiden Staaten günstig wäre, welche die wesent- 
liche Grundlage jedes Zusammenwirkens im Bereiche der großen Polirik 
bilden. In dieser Absicht und in dieser Hoffnung erklärte die italienische 
Regierung sich bereit, auf ein Arrangement einzugehen, welches die Be- 
friedigung der legitimen nationalen Ansprüche Italiens in billigem Aus- 
maß zur Grundlage hätte und welches zugleich dazu gedient hätte, die 
vorhandene Ungleichheit in der gegenseitigen Lage der beiden Staaten im 
Adriatischen Meere zu beseitigen. 
Diese Verhandlungen führten jedoch zu keinem in Betracht kommen- 
den Ergebnis. Alle Bemühungen der Königlichen Regierung stießen auf 
den Widerstand der Kaiserlichen und Königlichen Regierung, welche sich 
nach mehreren Monaten nur zur Anerkennung besonderer italienischer Inter- 
essen in Valona und zum Versprechen einer nicht genügenden Gebiets- 
einräumung im Trentino entschlossen hat, einer Konzession, welche durchaus 
keine normale Regelung der Lage enthält, weder vom ethnischen noch vom 
politischen oder militärischen Standpunkte aus. Außerdem sollte diese Kon- 
zession erst in einem unbestimmten Zeitpunkt, nämlich erst am Ende des 
Krieges, verwirklicht werden. 
Bei diesem Stande der Sache muß die italienische Regierung auf die 
Hoffnung verzichten, zu einem Einverständnis zu kommen, und sieht sich 
gezwungen, alle Vorschläge zu einem Uebereinkommen zurückzuziehen. Es 
ist ebenso unnütz, den äußeren Anschein eines Bündnisses aufrechtzuerhalten, 
welches nur die Bestimmung haben würde, das tatsächliche Bestehen eines 
beständigen Mißtrauens und täglicher Meinungsverschiedenheiten zu ver- 
schleiern. Aus diesem Grunde versichert und erklärt Italien im Vertrauen 
auf sein gutes Recht, daß es von diesem Augenblick an sich die volle Frei- 
heit seiner Handlungen wiedernimmt und seinen Bündnisvertrag mit 
Oesterreich-Ungarn für annulliert und künftig wirkungslos 
erklärt. 
5. Mai. Enthüllung des Garibaldi-Denkmals in Luarto. 
Zur Enthüllung des Garibaldi--Denkmals in Quarto bei Genua sind 
ungeheure Menschenmengen aus ganz Oberitalien zusammengeströmt. Senat 
und Kammer sind durch Abordnungen vertreten; der Hof sagte im letzten 
Augenblick ab. Von größeren Städten haben Rom, Neapel, Florenz, Venedig, 
Pisa ihre Bürgermeister entsandt. Die erste Rede hält der General Massone, 
der das Amt des Bürgermeisters von Genua bekleidet. Dieser Redner ver- 
meidet jeden Hinweis auf die jetzige Kriegsagitation in Italien und beschränkt 
sich auf einen Lobgesang für die Helden des Zuges nach Marsala. Dann 
lassen Feuerwehrleute aus Genua die Hülle des Denkmals fallen. Als die 
Bronzegruppe, die von dem ligurischen Bildhauer Barone geschaffen ist, sicht- 
bar wird, bricht die Menge in lautem Jubel aus. d'Annunzio tritt vor 
und verliest am Fuße des Denkmals seine „Weiherede“. Sie beginnt mit 
einer Begrüßung der Erschienenen, namentlich der beiden Enkel Garibaldis,
	        
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