Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

Stalien. (Mai 13., 16.) 957 
den Friedenskongreß, wo Italien sich vorbehält, die Sache Serbiens und 
Belgiens zu unterstügzen. 
13.16. Mai. Kundgebungen in Rom und anderen italieni- 
schen Städten. 
d' Annunzio wird mit einer Demonstration der Interventions- 
parteien empfangen, die hauptsächlich einen Giolitti feindlichen Charakter trägt. 
Der Abg. Bertolini, Kolonialminister im letzten Kabinett Giolitti und jetzt 
Giolittis Vertrauter und Gesinnungsgenosse, wird von der Volksmenge, die 
ihn in einem Straßenbahnwagen bemerkt, angegriffen und schwer mißhandelt. 
Bertolini wird schließlich von einem Offizier aus der Lebensgefahr errettet. 
Außer auf den Abg. Bertolini werden auch auf andere Politiker, die für 
einen Ausgleich eintreten, so die Abgg. Facta und Graziadei, Angriffe von 
Juterventionisten verübt. — Die Demonstrationen in vielen Städten 
Italiens dauern mit zunehmender Stärke fort. Die Sprache der Blätter 
gegen Giolitti ist äußerst heftig und bedrohlich. — „Idea Nazionale“ 
schließt einen Artikel mit der Frage, welche Summe Giolitti wohl von 
Oesterreich und Deutschland erhalten habe. Auf der Straße werden fort- 
während Exzesse gegen die Neutralisten verübt. Die Fenster am „Popolo 
Romano“ und an der deutschen Buchhandlung von Loescher werden ein- 
geworfen. „Idea Nazionale“ fordert die italienische Jugend auf, nach 
Rom zu strömen, um den Krieg zu erzwingen. 
Die Demonstrationen gipfelten am Abend des 14. in einer zu Ehren 
d Annunzios veranstalteten Festvorstellung im Theater Costanzi, wo dieser 
solgende gegen Giolitti und die Neutralisten gerichtete Ansprache hielt: Am 
1. Mai, dem Vorabend der Quartofeier, hatte die italienische Regierung 
den Dreibundsvertrag aufgelöst. Ich kann Ihnen die Formel wörtlich mit- 
teilen: Decaduto e nullo (hinfällig und nichtig). Infolgedessen hatte die 
Regierung bestimmte Abmachungen mit anderen Staatengruppen getroffen, 
schwere und endgültige Verpflichtungen übernommen, die durch den Aus- 
tausch von Plänen einer gemeinsamen militärischen Aktion besonderes Ge- 
wicht erhielten. Und nun ist die Arbeit vieler Monate unterbrochen von 
einem sogenannten italienischen Staatsmann und von Mitgliedern des 
italienischen Parlaments, die sich in die Knechtschaft der Fremdlinge be- 
geben haben, um ihr Vaterland zu schänden. d'Annunzio forderte die Römer 
auf, am 20. Mai den Anhängern der Villa Malta den Eintritt ins Parla- 
ment zu verwehren und sie zu ihrem Brotherrn zurückzujagen. Nach der 
Ansprache d'Annunzios im Teatro Costanzi kam es zu ernsten Unruhen in 
der Umgegend des Theaters. 
Aus Mailand, Florenz und Venedig werden ebenfalls heftige 
Demonstrationen gemeldet. Einen besonders bedrohlichen Charakter haben 
die Kundgebungen auch in Palermo angenommen. 
Am 15. erneuten sich die Demonstrationen in Rom in verschärftem 
Maße, sie nahmen teilweise einen revolutionären Charakter an und richteten 
sich unter Schmährusen auf Deutschland gegen Giolitti, der selbst als an 
Deutschland verkauft bezeichnet wurde. Auch gegen den Fürsten Bülow 
wurde mit Rufen demonstriert. Schwere Ausschreitungen gegen Anhänger 
der Neutralitätsidee waren an verschiedenen Stellen der Stadt zu ver- 
zeichnen. 
Der 16., der ein Sonntag war, ist in Rom ohne ernstliche Zwischen- 
fälle verlaufen. Dem Kabinett Salandra wurde eine Ovation dargebracht, 
ebenso dem englischen Botschafter Sir Rennel Rodd; Lady Rennel Rodd 
warf den Demonstranten Blumen und Kußhände zu.
	        
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