Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

958 Italien. (Mai 16.) 
Folgender Aufruf an das italienische Voll wurde vom, Popolo d' Italia“ 
am Sonntag den 16. Mai in Hunderttausenden von Exemplaren verteilt: 
1. Der Dreibundsvertrag wurde am 4. Mai gekündigt. 
2. Am 15. April wurde ein Kriegsabkommen mit dem Dreiverbande 
abgeschlossen, wonach Italien sich verpflichtete, Oesterreich-Ungarn bis zum 
24. Mai anzugreifen. 
3. Dieses Abkommen garantiert Italien die Befreiung aller unerlösten 
Gebiete, die Herrschaft in der Adria und große Kompensationen in Asien 
und Afrika. 
4. Es wurde bereits zur Ausführung dieses Planes geschritten, da 
die Offiziere des italienischen Generalstabes sich für eine einheitliche mili- 
tärische Aktion in Paris und London betätigten. 
Folglich war Giolitti, der dies alles wußte, von Bülow bezahlt. 
versuchte, das Vaterland zu verraten und an Oesterreich auszuliefern. 7 
gesichts der Majestät des italienischen Volkes beschuldigen wir Giolitti des 
Hochverrates und überweisen ihn der Verachtung und der öffentlichen Rache. 
„Evvyiva la guerra!“"“ 
Die Mailänder Zeitungen „Secolo“ und „Popolo d'Italia“ ver- 
breiten ein Manifest, in dem es heißt, es handle sich um die Rettung 
Europas vor der Schmach und der Feigheit der deutschen Barbarei. „Secolo“ 
beteuert: Auch wenn Oesterreich-Ungarn außer dem Trentino noch Triest 
und ganz Istrien geben wollte, könne Italien auf den Krieg nicht ver- 
zichten; denn die Neutralität Italiens würde den Krieg gegen die Entente 
sowie den Untergang Belgiens, Frankreichs und Serbiens bedeuten. 
Nur wenige Zeitungen behalten kühles Blut. Die „Concordia“ 
brandmarkt die Raffiniertheit Englands, dem es nicht gelungen sei, aus 
Japan und Griechenland Kanonenfutter herbeizuholen; darum kaufe Eng- 
land jett für sein Gold Kanonenfutter in Italien. 
Die „Stampa“, das Organ Giolittis, beschwört das italienische Volk, 
sich zu besinnen. Warum, sagt sie, uns in den Wahnsinn des Krieges stürzen? 
Wurden vielleicht die Ehre, die Nation, das Heer auch nur im geringsten 
beleidigt? Nichts, absolut nichts liegt vor, was unser Losschlagen recht- 
fertigen könnte, was uns veranlassen könnte, den Dreibundvertrag zu zer- 
reißen und mit der Entente zu marschieren, mit der uns nur schwache 
Bande verknüpfen. Leben und Zukunft einer Nation von 37 Millionen 
werden nicht aufs Spiel gesetzt, wie das Goldstück auf eine Nummer in 
Monte Carlo. Alle früheren Ministerpräsidenten und Minister, ja selbst 
drei Minister des Kabinetts Salandra sind gegen den Krieg, ferner die 
große Mehrzahl der Kammer und der ganze Senat. Wer außer diesen hat 
ein Recht, im Namen Italiens zu sprechen? Vielleicht der Haufen inter- 
ventionistischer Journalisten? 
16. Mai. Der König nimmt die Demission des Ministeriums 
Salandra nicht an. 
16. Mai. Die sozialistische Fraktion richtet an die Arbeiter 
folgenden Aufruf: 
Arbeiter Italiens! In der jetzigen schrecklichen Stunde empfinden 
wir das Bedürfnis, uns an Euch zu wenden und die politische Lage in 
ihrem wahren Lichte, frei von allen Zuckungen und den Fälschungen der 
den Krieg des Krieges halber wollenden Presse, darzustellen. Gegen alle 
diejenigen, die sich den mit Gewalttätigkeiten drohenden Vertretern des 
Krieges um des Krieges willen nicht ohne weiteres unterwerfen, wird ein 
Wort gebraucht: „Verräter!“ Nun gut; auch wir Sozialisten, die nie mit
	        
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