Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

Italien. (Juni 6.) 981 
Verhandlungen zwischen Oesterreich-Ungarn und Italien von Interesse ist. 
So ist es bemerkenswert, daß mit den ersten Dokumenten des Grünbuchs 
sich sofort der Plan verrät, die Regierung als unter dem Druck der öffent- 
lichen Meinung handelnd erscheinen zu lassen, der auch der Monarch nicht 
zu widerstehen wagen dürfe. Bereits in Sonninos Telegramm an Avarna 
vom 9. Dezember, mit dem das Grünbuch beginnt, war die Rede von 
„unzweifelhaften Anzeichen von Unruhe im Parlament und in der öffent- 
lichen Meinung, die klar die Tendenzen der nationalen Aspirationen kund- 
gibt. Dieser Unruhe und diesen Aspirationen ist die Regierung gezwungen, 
ernste Rechnung zu tragen.“ Und am gleichen Tag erhält der Botschafter 
in Berlin, Bollati, die Anweisung, Herrn v. Jagow „über den Stand der 
öffentlichen Meinung zu unterrichten und ihn auf den Zusammenhang 
sconnessione) aufmerksam zu machen, der in Italien zwischen der Frage 
der äußeren und der inneren Politik bestehe. Die Strömung eines Teils 
der öffentlichen Meinung zugunsten der Neutralität bedeute nicht den Ver- 
zicht auf die italienischen Interessen auf dem Balkan und in der Adria 
und auf die nationalen Aspirationen, sondern die Ueberzeugung, daß diese 
Interessen und Aspirationen durch die Neutralität wirksam wahrgenommen 
würden. Wenn sich das Gegenteil herausstelle, so würde die Reaktion in 
der öffentlichen Meinung sehr ernst sein und Wirkungen haben, die die 
königliche Regierung vorherzusehen und möglicherweise zu vermeiden ver- 
pflichtet sei.“ Was mit jenem Zusammenhang zwischen innerer und äußerer 
Politik gemeint ist, findet man in dem Grünbuch verschiedentlich ausgedrückt, 
so in einem Telegramm Sonninos vom 20. Dezember, in dem er über seine 
erste Unterredung mit dem Fürsten Bülow berichtet, dem er gesagt habe, „die 
Mehrheit des Landes sei für die Bewahrung der Neutralität“ — ein be- 
merkenswertes Eingeständnis! — „und geneigt, die Regierung in diesem 
Sinne zu unterstützen. Dieser Aufgabe, deren praktische Schwierigkeiten sie 
ertenne, habe die Regierung sich unterzogen. Ihre Lösung könne aber schäd- 
liche Rückschläge hervorbringen, die über das bloße Schicksal eines Mini- 
steriums hinausgingen. Die savoyische Dynastie schöpfe ihre größte Kraft in 
der Vertretung des nationalen Empfindens .." Das alles ist nichts anderes 
als die diplomatisch umschriebene Vorwegnahme der von der Regierung ge- 
stissentlich genährten Kriegshetze mit dem Wahlspruch „Krieg oder Revolution“. 
Die Verhandlungen drehen sich zunächst um die Frage, ob der Fall 
des Artikels 7 des Bündnisvertrags, der Italien Kompensationen für eine 
„dauernde oder zeitweilige“ Gebietserweiterung durch Oesterreich-Ungarn 
zuspricht, überhaupt gegeben sei. Von der Wiener Regierung wird das ver- 
neint, da es sich, nach einer von Avarna am 13. Dezember gemeldeten 
Aeußerung Berchtolds, bei der Aktion in Serbien weder um eine dauernde 
noch vorübergehende, sondern „momentane“ Besetzung handle. Ein Stand- 
vunkt, der sich wohl verteidigen läßt, da ja Oesterreich-Ungarn im vor- 
hinein auf einen Gebietszuwachs auf Kosten Serbiens verzichtete und die 
dortigen Operationen demnach rein militärischer Natur waren. Merkwürdig 
berührt es, daß Sonnino als Beweis des Gegenteils in einer Unterredung 
mit Macchio am 20. Dezember die Ernennung eines österreichischen Komman-- 
danten in Belgrad auführt, nachdem Belgrad bereits wieder geräumt war! 
Am gleichen Datum kann Avarna berichten, daß Berchtold bereit ist, 
auf einen Meinungsaustausch auf der Grundlage des Artikels 7 einzugehen. 
Doch schon am folgenden Tag ist er im Besitz von Instruktionen, aus 
denen das Uebelwollen der römischen Regierung unzweifelhaft hervorgeht. 
Er soll nämlich darauf bestehen, daß die Vereinbarungen über Rompen- 
sationen im Sinne des Artikels 7 jeweils abgeschlossen. sein müssen, noch 
bevor die Operationen, die zu einer Gebietserweiterung Oesterreich-Ungarns
	        
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