986 Italien. (August 22.)
Libyen durch die Türkei und die Verhinderung der in Syrien ansässigen
Italiener an der Abreise. Amerika übernimmt die Vertretung der italie-
nischen Interessen in der Türkei.
22. Aug. Die Regierung richtet an die Vertreter Italiens im
Auslande ein Rundschreiben über die zwischen Italien und der
Türkei schwebenden Differenzen.
Die türkische Regierung habe, so heißt es hier, den Lausanner Friedens-
vertrag alsbald nach seiner Unterzeichnung verletzt, und diese Verletzungen
dauerten bis heute ohne Unterbrechungen an. Die osmanische Regierung
habe niemals ernsthafte Maßregeln getroffen, die die Feindseligkeiten in
Libyen sofort hätten beendigen können, wie sie es feierlich versprochen hade.
und habe nichts für die Freilassung der italienischen Kriegsgefangenen in
Tripolitanien getan. Die in der Cyrenaika verbliebenen osmanischen Sol-
daten seien unter dem Kommandc ihrer alten Offiziere geblieben, hätten
sich fortgesetzt der türkischen Fahne bedient und ihre Gewehre und Geschütze
behalten. Enver Beihabe in Libhen die Feindseligkeiten gegen die italienische
Armec bis Ende November 1912 geleitet und Aziz Bei diese Gegend mit
800 Mann regulärer türkischer Truppen erst im Juni 1913 verlassen. Die
Aufnahme beider bei ihrer Rückkehr in die Türkei beweise genügend, daß
ihre Handlungen von der RKaiserlichen Behörde durchaus gebilligt worden
seien. Nach Aziz Beis Abreise seien fortgesetzt Offiziere der türkischen Armee
in der Cyrenaika eingetroffen, und zurzeit, d. h. im April 1915, befänden
sich außer hundert Offizieren, deren Namen die italienische Regierung kenne,
35 junge Leute aus Benghasi dort, die Enver im Dezember 1912 gegen
ihren Willen nach Konstantinopel in die Militärschule mitgenommen hätte,
aus der sie alsbald nach der Cyrenaika zurückgesandt worden seien. Trotz
gegenteiliger Erklärungen wisse man mit Sicherheit, daß der Heilige Krieg
1914 in Afrika auch gegen die Italiener proklamiert worden sei; eine Mission
türkischer Offiziere und Soldaten, die beauftragt war, den aufständischen
Führern der Senussi Geschenke zu überbringen, sei kürzlich durch ein franzö-
sisches Kriegsschiff aufgegriffen worden. Die friedlichen und freundschaft-
lichen Beziehungen, die die italienische Regierung nach dem Lausanner
Frieden zwischen den beiden Ländern glaubte herstellen zu können, existieren
nicht, da die türkische Regierung sie zerstört hat. Daher hat man feststellen
müssen, daß alle diplomatischen Beschwerden gegen Verletzungen des Ver-
trages durchaus fruchtlos waren. Die italienische Regierung mußte also
anders vorgehen, wenn sie die hohen Interessen des Staates wahren und
ihre Kolonien gegen die anhaltenden Bedrohungen und tatsächlichen Feind-
seligkeiten der türkischen Regierung verteidigen wollte. Die Entscheidung in
diesem Sinne wurde um so notwendiger und dringender, als die osmanische
Regierung sich erst kürzlich wieder flagrante Verletzungen der Rechte und
Interessen, ja sogar der Freiheit italienischer Staatsangehöriger in dem
osmanischen Kaiserreiche hat zuschulden kommen lassen, ohne daß die äußerst
energischen Vorstellungen des italienischen Botschafters in Konstantinopel
in dieser Frage irgendwelchen Erfolg gehabt hätten. Gegenüber den Winkel-
zügen der osmanischen Regierung hinsichtlich freier Abgabe der italienischen
Staatsangehörigen aus Kleinasien mußten diese Vorstellungen jüngst die
Form eines Ultimatums annehmen.
Am 3. August überreichte der Botschafter in Konstantinopel auf Weisung
der Regierung dem Großwesir die Note, die folgende vier Forderungen
enthielt: 1. Die Italiener dürfen frei Beirut verlassen, 2. die Italiener in
Smyrna dürfen, da der Hafen von Vurla nicht benutzbar ist, über Sigagig")