Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

1006 Rönische Kurie. (Juni 22.—Juli 29.) 
dienstuntauglichen Gefangenen beschäftigt hatte, gilt in den letzten Tagen 
diesen Unglücklichen. Der Heilige Vater richtet daher einen Vorschlag an 
die schweizerische Regierung mit dem Ersuchen, bei diesem menschenfreund- 
lichen Werke mitzuwirken. Der Papst hätte sich an keine bessere Stelle 
wenden können, sei es wegen der glücklichen Lage der Schweiz, sei es wegen 
der gastfreundlichen Tradition des Schweizer Volkes, sei es wegen des 
weitgehenden Beistandes, den die schweizerische Regierung für den Aus- 
tausch der dienstuntauglichen Gefangenen bereits gewährt hat. 
22. Juni. Die „Liberté“ veröffentlicht eine Unterredung des 
Papstes mit ihrem Mitarbeiter Latapie, die wegen der freimütigen Ur- 
teile des Papstes zu erregten Kommentaren in der Ententepresse führt. 
Kardinalstaatssekretär Gasparri äußerte sich dazu in Form eines Inter- 
views im „Corriere d'Italia“: Latapie habe durch Hinzusetzen oder Heraus- 
reißen mancher Aeußerung aus dem logischen Zusammenhang die Gedanken 
des Papstes entstellt. Zu der österreichischen Anklage gegen das russische 
Heer, daß es 1500 Judenfamilien als Kugelfang vor sich hergetrieben habe, 
habe sich der Papst nicht äußern können, da eine russische Darstellung über 
den betreffenden Vorgang bisher fehle. Von dem deutschen Generalgouverneur 
in Belgien, v. Bissing, sei weder beim Papst noch beim Staatssekretariat 
ein Brief des Inhalts eingelaufen, daß v. Bissing künftig mit größter 
Energie Gewalttätigkeiten gegen Kirche und Klerus in Belgien unterdrücken 
wolle. Der Heilige Stuhl habe gewünscht, daß Italien dem Weltkrieg fern- 
bleibe, aber nur unter der Voraussetzung, daß Oesterreich die italienischen 
Forderungen erfülle. Dann habe der Heilige Stuhl strengste Neutralität 
bewahrt, da die Kämpfer auf beiden Seiten zu seinen Söhnen gehören. 
Den Untergang der „Lusitania“ habe der Papst bedauert, aber keine Stellung 
dazu genommen, da ihm die Mittel fehlen, den Tatbestand festzustellen. 
(Siehe den Wortlaut der Unterredung des Papstes mit Latapie nebst der 
Erwiderung des „Oss. Rom.“ und einem Brief des Generalgouverneurs Frhr. 
v. Bissing in der Beck schen Chronik des Deutschen Krieges Bd.VI S. 121 ff.) 
21. Juli. Der Papst gewährte dem Direktor der Madrider 
Zeitschrift Cadenas eine Unterredung. 
Der Papst sagte, alles versucht zu haben, um das Eingreifen Italiens 
in den Krieg zu verhindern. Als Cadenas von dem Jubel sprach, der an- 
heben würde, wenn der Papst es während des Krieges vorziehen sollte, 
dorthin überzusiedeln, erwiderte er: „Nein, nein! Jetzt ist mehr als je meine 
Anwesenheit in Rom notwendig, um wenigstens etwas von dem entfesselten 
Sturmlauf der Nationen, die wie zügellose Rotten voranstürmen, zu mäßigen.“ 
29. Juli. Der „ÖOsservatore Romano“ veröffentlicht einen an 
die kriegführenden Völker und ihre Oberhäupter gerichteten Aufruf 
des Papstes zum Frieden. 
Heute an diesem traurigen Jahrestag des Ausbruchs dieses furchtbaren 
Konflikts entringt sich unserem Herzen der glühende Wunsch, daß der Krieg 
bald endigen möge. Wir erheben unsere Stimme, um unseren väterlichen 
Ruf zum Frieden hören zu lassen. Möge er den furchtbaren Lärm der 
Waffen übertönen, die kriegführenden Völker und ihre Oberhäupter erreichen 
und sie milderen und freundlicheren Absichten zugänglich machen. Im 
Namen des Heiligen Gottes beschwören wir die kriegführenden Völker, 
dem entsetzlichen Blutbad, das seit einem Jahre Europa entehrt, ein Ende 
zu machen. Es ist Bruderblut, das man zu Lande und zu Wasser vergießt.
	        
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