Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

1018 Schweiz. (Juni 16.) 
erwidert, die von dem Bundesrat beschlossene sog. Neutralitätszensur (die 
Verwarnung, Suspension und Unterdrückung von Blättern) werde sehr 
maßvoll gehandhabt. Man wird den Bundesrat eher dafür kritisieren 
können, daß er eine zu große Zurückhaltung zeigte. Wir haben leider mit 
einer ganz falschen Auffassung zu kämpfen, nämlich: Daß zwar der Staat 
neutral sei, jeder einzelne aber machen könne, was er wolle. Das ist grund- 
falsch; denn der Staat besteht aus der Gemeinschaft der Bürger. Hat der 
Staat Pflichten, so hat sie auch der einzelne. Der schweizerische Bürger 
hat daher die Pflicht, seinen Sympathien und Antipathien gegenüber den 
Kriegführenden Zwang aufzuerlegen. Der Bundesrat wird niemals Be- 
leidigungen irgendeiner Gruppe der Kämpfenden dulden, er wird aber 
noch weniger dulden, daß versucht wird, die Richtlinien unserer Neutralitäts- 
politik zu verrücken, wie tatsächlich geschehen ist. Der Bundesrat wird eni- 
schlossen auf dieser Linie beharren und glaubt dabei der Zustimmung des 
weitaus größten Teiles des Schweizervolkes sicher zu sein. (Lebhafter Beifall. 
Stadlin (freis.) stellt als Mitglied der Kommissionsminderheit den 
Antrag, die Zensurfrage nicht zu diskutieren. 
Ador (lib.-kons.) führt aus: Die Presse der Neutralen hat ein Recht, 
auf die Mißbräuche der Kriegführung aufmerksam zu machen. Ich kann 
auf Grund meiner Erfahrungen als Präsident des Internationalen Roten 
Kreuzes versichern, daß die Presse in dieser Hinsicht schon verdienstlich ge- 
wirkt und manche Besserung herbeigeführt hat. Die von dem Bundesrat 
Hoffmann entwickelte Anschauung über die Neutralitätspflicht ist ganz ger- 
manische Auffassung und wird niemals in den Kopf eines Romanen hinein- 
gehen. Den Antrag Stadlin, die Diskussion zu schließen, lehnen wir ab 
als einen Versuch, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken. (Beifall bei den 
Welschen und Sozialdemokraten.) 
Stadlin zog hierauf seinen Antrag zurück. 
Naine (Soz.) protestiert gegen den Versuch Stadlins, eine Zensfur 
im Parlament einzuführen. Er wirft dem Präsidenten vor, daß er ihm 
absichtlich das Wort nicht habe geben wollen. (Unruhe.) 
Präsident Bonjour stellt fest, daß nach der Zurückziehung des An- 
trages Stadlin die Diskussion frei sei. Wider Erwarten meldet sich jedoch 
tein Redner zum Wort. (Allgemeine Heiterkeit.) Damit war der Abschnitt 
erledigt. - 
Der Bericht des politischen Departements über seine Geschäftsführung 
wurde genehmigt. 
16. Juni. (Nationalrat.) Bei der Fortsetzung der Einzel- 
beratung über den Geschäftsbericht des Bundesrats kam es heute 
neuerdings zu einer großen Neutralitätsdebatte. 
Sigg= Genf (Soz.) führt aus, daß angesichts der allseitigen Erklä- 
rungen über die Achtung der Schweizer Neutralität für die Schweiz keine 
dringliche Gefahr mehr bestehe. Darum soll die Zenfur aufgehoben werden, 
die verfassungswidrig sei. 
Bundesrat Hoffmann antwortet, wenn die Zensur verfassungswidrig 
wäre, so stünde auch alles außerhalb der Verfassung, was der Bundesrat 
seit dem 3. August auf Grund der allgemeinen, ihm vom Parlament er- 
teilten Vollmachten geschaffen habe. „Die Zensur ist selbstverständlich eine 
Einschränkung der Preßfreiheit, aber eine Einschränkung, die die Staats- 
notwendigkeit verlangt. Ich glaube nicht an einen tiefgehenden Gegensatz 
zwischen Welsch und Deutsch. Der von Ador gestern aufgestellte Gegensatz in 
der germanischen und romanischen Auffassung über das Verhältnis zwischen
	        
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