Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

Schweiz. (Juni 16.) 1019 
Staat und Bürger trifft nicht ganz zu. Wir Deutsch-Schweizer stehen nicht auf 
dem Standpunkt der Allgewalt des Staates, aber ebensowenig ist der vom 
Doktrinarismus angekränkelte Standpunkt der absoluten Freiheit Wirklichkeit. 
Die Zensur bekämpft in erster Linie die Sensationspresse. Unwahr ist, daß 
die Zenfur willkürlich und parteiisch arbeitet. Da wir die Segnungen der 
Neutralität genießen wollen, müssen wir auch die Pflichten eines neutralen 
Landes tragen. Und diese Pflichten hat der Staat als Gesamtheit der Bürger 
zu übernehmen. Wenn wir Schweizer uns allesamt immer an diese Ein- 
heit erinnern, dann gibt es niemals einen Graben zwischen Welsch und 
Deutsch. Gewiß haben wir zwei Köpfe, den feinen romanischen und den 
dicken deutschen Kopf. Wir wollen beide behalten. Wir haben aber nur ein 
Herz, das für das gemeinsame Vaterland schlägt.“ (Lebhafter Beifall.) 
Secrötan-Lausanne (lib.-kons.) wendet sich neuerdings gegen die 
straffe Handhabung der Zenfur. Auffallend sei, daß Bundesrat Hoffmann 
nur Maßregelungen welscher Blätter anführte, während bekanntlich auch 
deutsch-schweizerische verwarnt worden seien. Der welsche Freiheitsbegriff 
sei unvereinbar mit dem deutsch-schweizerischen Standpunkt, der in der 
Staatshoheit das letzte Wort der Intelligenz sieht. Aber auf patriotischem 
Boden, so schließt der Redner, kennen auch wir keinen Graben zwischen 
Welsch und Deutsch. 
Bossi-Tessin (freis)), der Verfasser des von der Zensur unterdrückten 
und dann in einem italienischen Blatt erschienenen Artikels über ein Ein- 
schreiten der Schweiz gegen die Zentralmächte, erklärte, er habe über das 
Eintreten aller Neutralen für Freiheit und Recht geschrieben, nicht aber für 
ein bewaffnetes Eingreifen der Schweiz. Der Bundesrat möge die eiserne 
Faust nach allen Richtungen gleichmäßig gebrauchen. 
Buehlmann-Bern (sreis.) wendet sich gegen den Vorwurf, als ob 
die Deutsch-Schweizer eine mangehafte Auffassung von Freiheit und Un- 
abhängigkeit hätten. Ihre Geschichte schütze sie vor diesem Verdacht. Wir 
ordnen, so führt der Redner weiter aus, die Freiheit des einzelnen der 
Staatsnotwendigkeit deshalb unter, um den Staat um so besser zu schützen. 
Der Ernst der Lage, in der wir in der Schweiz leben, wird viel zu wenig 
erkannt, obwohl sich unsere Lage von Tag zu Tag verdüstert. Darum ver- 
stehen wir gewisse Aufreizungen nicht, und wir bedauern es, daß es ein 
Mitglied des Rates war, das zu einem Eingreifen der Schweiz aufforderte. 
Wir Deutsch-Schweizer nennen so etwas Hochverrat. Wir alle sollten be- 
herrscht sein von dem einen Gedanken, daß wir in erster Linie Schweizer sind. 
Bundespräsident Motta antwortet Bossi, mehrfach von Beifall unter- 
brochen, in italienischer Sprache: Mißgriffe der Zensur im Tessin sind zu- 
zugeben, allein die von Bossi vertretenen Theorien sind verwerflich; sie 
widersprechen unserer neutralen Stellung und unserer internationalen 
Mission. Die „Gazetta Ticinese,“ das Blatt Bossis, hat schon wiederholt 
Anlaß gegeben, mit Recht einzuschreiten. Erst gestern hat sie sich gegen- 
über dem in Lugano sich aufhaltenden deutschen Gesandten am Vatikan 
Unfreundlichkeiten erlaubt. Ich bin ein Anhänger der Preßfreiheit, aber 
es gibt einen Mißbrauch dieser Freiheit, der im gegenwärtigen Augenblick 
dem Staat gefährlich werden kann. Lassen wir jetzt allen inneren Streit. 
Unsere Beziehungen zu den Kriegführenden sind ausnahmslos gut, denn 
alle Staaten haben uns korrekt behandelt. Wir werden das heilige Asylrecht, 
das die Schweiz den Bürgern aller Staaten von jeher gewährt hat, streng be- 
schützen und werden nicht dulden, daß gegen Angehörige irgendeines Staates 
das Schweizervolk aufgehetzt wird. Unsere Ueberlieferung und unsere Aufgabe 
im Kreise der Völker weisen uns eine streng neutrale Stellung zu. Wir werden 
alles daransetzen, sie zu bewahren. (Lebhafter, anhaltender Beifall.)
	        
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