Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

Rußland. (Februar 9.) 1085 
untereinander immer stärker. — Seit den Tagen, an denen ich zum letzten 
Male zu Ihnen gesprochen habe, hat sich vor allem das große Ereignis 
vollzogen, daß die Türkei auf die Seite unserer Feinde getreten ist. Aber 
ihr Widerstand ist schon von den ruhmreichen kaukasischen Truppen ge- 
brochen worden, und die glänzende Zukunft Rußlands am Schwarzen 
Meere vor den Mauern von Konstantinopel tritt mit immer mehr zu- 
nehmender Klarheit zutage! Der Ministerpräsident schließt mit den Worten: 
Die große Zeit setzt große Probleme auf die Tagesordnung, die unlösbar 
scheinen, tatsächlich aber zeigen, daß die Hilfsquellen und Kräfte Ruß- 
lands unerschöpflich sind. Sie, die Sie von Ihren heimatlichen Gegenden 
hierher gekommen sind, wissen, wie wenig der Krieg das innere wirt- 
schaftliche Leben Rußlands beeinflußt hat. Unser russischer Bauer hat noch 
nicht seine ganze Kraft entwickelt, und gewisse Zweige des nationalen 
Lebens sind dank des Alkoholverbotes gekräftigt worden. Dieser Krieg hat 
auch die Frage der Unabhängigmachung unserer Industrie vom Joch der 
Deutschen aufgeworfen. 
Dann bestieg Minister des Aeußern Ssasonow die Rednertribüne. 
Ssasonow erinnert daran, wie er noch vor sechs Monaten von derselben 
Tribüne dargelegt habe, warum Rußland angesichts des groben Anschlags 
Deutschlands und Oesterreichs-Ungarns auf die Unabhängigkeit Serbiens 
und Belgiens keinen anderen Entschluß hätte fassen können als den, 
zur Verteidigung des mißhandelten Rechtes zu schreiten. Rußland habe 
sich in bewunderungswürdiger und einmütiger Weise in seinem Ansturm 
gegen den Feind gezeigt, der es herausgefordert habe. Rußland sei nicht 
allein geblieben, sondern sei unverzüglich von Frankreich und England 
unterstützt worden, zu denen bald auch Japan gekommen sei. Die stand- 
haften russischen Truppen reichten den Verbündeten die Hand und flochten 
ihrer Ruhmeskrone neue Lorbeeren hinzu. Die russischen Heere marschieren 
jetzt auf ihr Ziel zu und sichern den glücklichen Augenblick des schließlichen 
Triumphes über den Feind, der sich einen leichten Sieg vortäuschte und 
verzweifelte Anstrengungen macht, der auf alle Mittel zurückgreift, selbst 
auf das der Verfälschung der Wahrheit, die die deutschen und österreichisch- 
ungarischen Urheber dieses in so leichtsinniger Weise entfachten Brandes 
nicht rechtfertigen wollen; so bemühen sie sich, ihre Länder und das Aus- 
land zu belügen, indem sie beteuern, daß sie zum Kriege gezwungen 
worden seien. Es ist unnütz, das alte Lied zu wiederholen, daß Eduard VII. 
versucht habe, Deutschland durch Feinde einzukreisen, denn die Welt kennt 
die Friedensliebe dieses weisen Herrschers, der den vollen Ehrgeiz der 
Berliner Politiker kannte und verstand, daß einzig die Annäherung der 
Mächte mit gemeinsamen Interessen Europa das sichere politische Gleich- 
gewicht verschaffen können. Auch batten die Ententen, die von König Eduard 
abgeschlossen oder vorbereitet wurden, einen rein defensiven Charakter. 
Ganz anders war die Haltung der Deutschen in den letzten Jahren, ganz 
besonders gegen Rußland, während Rußland den jahrhundertealten Ueber- 
lieferungen guter Nachbarschaft, die es mit Deutschland ehrlich unter- 
hielt, treublieb. Deutschland stellte sich Rußland überall entgegen 
und suchte gegen unser Land die Nachbarn aufzubringen, besonders die- 
jenigen, mit benen Rußland durch wichtige Interessen verbunden ist, so 
die Stondinavischen Länder, wo Deutschland Mißtrauen gegen Ruß- 
land säte, so Galizien, wo deutsches Geld die ukrainische Bewegung 
schuf, so Rumänien, wo die Deutschen das Bewußtsein der Gemein- 
samkeit der rumänischen und russischen Interessen zu verdunkeln suchten, 
so schließlich die Türkei, wo die deutschen Intrigen ebenso stark zu- 
nahmen wie ihr Besitz.
	        
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