Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

1086 Kußland. (Februar 9.) 
Das kürzlich veröffentlichte Orangebuch hat gezeigt, daß die Ereignisse 
am Bosporus, die dem Eingreifen der Türkei in den Krieg unmittelbar 
vorangingen, das Ergebnis deutscher Hinterlist gegen das osmanische Reich 
waren. Dieses lud die deutschen Instruktoren unter General Liman von 
Sanders in der Hoffnung ein, die Ausbildung der Armee zu vervoll- 
kommnen und so die Unabhängigkeit gegen die russische Gefahr, die ihm 
von Berlin aus vorgetäuscht wurde, zu sichern. Deutschland benutzte in- 
dessen dieses Eindringen seiner Beauftragten in die türkische Armee, um 
aus dieser ein Werkzeug zur Verwirklichung seiner politischen Pläne zu 
machen. Alle Handlungen der Türkei seit dem Erscheinen der „Göben" in 
den Dardanellen geschehen unter dem Drucke Deutschlands, aber die Be- 
mühungen der Türkei, die Verantwortung dafür abzulehnen, hemmten 
ihren Sturz in den Abgrund nicht mehr, dem sie unrettbar zutrieb. Die 
Ereignisse an der russisch-türkischen Grenze, durch die die russischen Waffen 
neuen Ruhm erworben haben, werden Rußland der Lösung seiner poli- 
tischen und wirtschaftlichen Probleme näherbringen, die sich an sein Streben 
nach einem Ausgang zum freien Meere knüpfen. 
Der Minister geht sodann zu der der Duma vorliegenden Sammlung 
von Schriftstücken über, die sich auf Reformen in Armenien beziehen, und 
sagt: Die russische Regierung war uneigennützig bemüht, das Los der 
Armenier zu erleichtern, und das russisch-türkische Einvernehmen vom 
26. Januar 1914 ist ein geschichtlicher Akt, in dem die Türkei die ganz 
besondere Rolle Rußlands in der armenischen Frage anerkennt. Nach 
Beendigung des Krieges wird diese Sonderstellung Rußlands von der 
Regierung in einem für das armenische Volk günstigen Sinne ausgedrückt 
werden. 
Unser Eintreten für Serbien, das Rußland Ehre brachte, geschah 
unter der machtvollen Wirkung unserer Gefühle für die verschwisterte 
Nation, deren Seelengröße in dem gegenwärtigen Kriege eine enge Ver- 
bindung der beiden Länder herbeiführte. Der Minister erwähnt mit Be- 
friedigung, daß auch Montenegro für die gemeinsame Sache kämpfe. 
Die Beziehungen Rußlands zu Griechenland sind von vollendeter 
Herzlichkeit. Die Bestrebungen des griechischen Volkes, die Qualen der- 
jenigen seiner Religionsgenossen, die unter türkischem Joche seufzen, zu 
beenden, finden bei der kaiserlichen Regierung volle Zustimmung. 
Die russisch-rumänischen Beziehungen sind von dauerhafter 
Stetigkeit. Der Minister weist auf die russenfreundlichen Kundgebungen 
hin, die unausgesetzt während des ganzen Herbstes in Bukarest und im 
ganzen Lande anhielten, und die feindselige Gesinnung der Rumänen 
gegen Oesterreich-Ungarn deutlich zum Ausdruck brachten. 
Der Minister fährt fort: Sie erwarten gewiß, daß ich nun ganz be- 
sonders über die Haltung derjenigen am Kriege nicht beteiligten Länder 
spreche, denen ihr eigener Vorteil gebietet, sich der Sache Rußlands und 
seiner Verbündeten anzuschließen. In der Tat hat die öffentliche Meinung 
dieser Staaten, die für die Verwirklichung der nationalen Ideale lebhaft 
empfindet, sich längst in diesem Sinne ausgesprochen. Sie werden jedoch 
begreifen, daß ich auf diese Frage nicht näher eingehe, da ja die Re- 
1 dieser Länder, mit denen wir in freundschaftlichen Beziehungen 
ind, noch keine endgültigen Beschlüsse gefaßt haben. Nun, es ist ihre 
Sache, diese Beschlüsse zu fassen, denn sie allein werden ihren Völkern 
verantwortlich sein, wenn sie sich eine günstige Gelegenheit der Verwirk- 
lichung ihrer nationalen Bestrebungen entgehen lassen. Ich will mit be- 
sonderer Dankbarkeit der Dienste gedenken, die Italien und Spanien 
uns erwiesen haben, indem sie den Schutz unserer Volksgenossen in den
	        
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