Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

Rußßland. (Juli Anfang —5.) 1099 
Anfang Juli. (Petrikau.) Tagung eines von dem obersten 
polnischen Nationalkomitee einberufenen polnischen Nationaltags. 
Außer den Vertretern der von den Zentralmächten besetzten Gouverne- 
ments, serner der polnischen Legionen sind auch Polen aus Amerika sowie 
Vertreter aus Galizien eingetroffen. Der Warschauer Delegierte führte 
aus, daß Warschau auf ein Manifest der Zentralmächte warte: „Unser 
Massenaufstand ist wesentlich durch die Garantie der eigenen Staats- 
souveränität der polnischen Nation bedingt. Wir scheuen aber keineswegs 
vor einem Zusammenschluß mit Oesterreich-Ungarn unter der Habsburger 
Dunastie zurück. Der Versammlung wird eine Deukschrift, die der öster- 
reichisch-ungarischen Regierung eingereicht wurde, mit folgendem Mindest- 
programm für Polen vorgelegt: Garantie der polinsschen Unteilbarkeit 
der polnischen Gebiete: Ausgestaltung der Legionen zu einer polnischen 
Armee an der Seite Oesterreichs: Gewährung der im Rahmen der stra- 
tegischen Rücksichten möglichen Selbstverwaltung der okkupierten Gebiete 
Polens. 
3. Juli. Ein kaiserl. Erlaß ermächtigt den Finanzminister zur 
zweimaligen Ausgabe von je 500 Millionen Rubel 5 oiger kurz- 
fristiger Schatzobligationen, die von der Steuer befreit sein sollen. 
Die Stücke sollen einen Wert von hunderttausend, fünfhunderttausend 
und einer Million Rubel haben und eine Laufzeit von sechs Monaten, 
welche vom 3. Juli ab datiert wird. Die Zinsen sollen beim Verfall aus- 
bezahlt werden. Die Angabe des Wertes soll nicht nur in russischem Gelde 
erfolgen, sondern auch, falls notwendig, in ausländischem Gelde. 
5. Juli. Der russisch-polnische Ausschuß tritt unter Go- 
remykins Vorsitz zum erstenmal zusammen. 
An der Sitzung nehmen die Reichsratsmitglieder Chwostow und 
Professor Bagalej, die Mitglieder der Reichsduma Schubinskoj, Balaschow 
und Fürst Svjatopolk Mirskij und die Polen Grafen Bjelepolskij, Schjebeko, 
Dmovskij, Grabskij, Garusjenit; und Dobsjetzkij teil. Als Vertreter der 
Regierung ist außer Gorempokin auch Staatssekretär Krysjanovskij anwesend. 
Zur Beratung steht das vom Minister des Innern Maklakow hinter- 
lassene Autonomieprojekt für Polen: Danach bleiben für das König- 
reich Polen die gesetzgeberischen Institutionen, die Armee und Kriegsflotte, 
das Mährungs-, Post= und Telegraphenwesen, die fiskalische Verwaltung, 
die Eisenbahnen, die Tarife und Gerichtsbehörden gemeinsam mit dem 
russischen Kaiserreich. Die eigentliche Landesverwaltung von Polen wird 
in die Hände eines Statthalters gelegt. Ihm zur Seite steht ein besonderer 
Rat, der bestehen soll: aus ernannten Mitgliedern von Amts wegen (Viril- 
mitgliedern), aus Mitgliedern, welche die Kommunal- und Selbstverwaltungs- 
körper wählen. Von allen für die Verwaltungsbehörden ernannten Be- 
amten wird die Kenntnis der polnischen Sprache verlangt. Der polnischen 
Bevölkerung wird ferner das Recht eingeräumt, sich an alle Verwaltungen 
und Gerichtsbehörden des Landes in der polnischen Sprache zu wenden, 
jedoch wird die Staatssprache in der Amtstätigkeit dieser Behörden bei- 
behalten. Das Polnische wird als Vortragssprache in allen Hoch-, 
Mutel- und Volksschulen eingeführt mit der Bedingung, daß die russische 
Sprache, Literatur, Geschichte, Geographie und die russische Jurisprudenz 
in russischer Sprache vorgetragen werden. 
Ein von liberaler Seite ausgehender Gegenentwurf stellt eine Reihe 
von Leitsätzen auf, wonach die vom Raiser von Rußland verwaltete Krone
	        
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