Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

Kußland. (August 1.) 1109 
ausgesprochen, und zwar in einhelligem Beschluß. In jedem anderen Lande, 
wo es eine Verbindung zwischen der Regierung und der bürgerlichen Ge- 
sellschaft, eine Achtung vor der Volksvertretung gibt, hätte so ein Beschluß 
einen starken Eindruck gemacht und eine strenge Untersuchung zur Folge 
gehabt. Die Regierung aber machte gar nichts. Aber die Tätigkeit des 
Generalstabs habe nicht vermocht, das für den Krieg Nötige voraus- 
zuberechnen. Die Schuld der Leiter des Artilleriewesens sei grenzenlos. 
Der Redner erklärt seine Ueberzeugung, daß noch alles in Ordnung ge- 
bracht werden kann: Rußlands Hilfsmittel seien ungeheuer und die Be- 
geisterung der Bevölkerung unbegrenzt. Durch die begangenen Vernach- 
lässigungen in der Versorgung der Armee mit Kriegsmaterial seien aber 
Ströme von Blut vergeudet worden, die Personen, die hieran schuld seien, 
müßten streng bestras werden. Einer der Fehler des russischen Staats- 
wesens sei, daß die kleinen Verbrecher und das gemeine Volk mit ganzer 
Strenge des Gesetzes bestraft werden, während Dienstverbrechen hochgestellter 
Personen unbestraft blieben; der Mord auf Stolypin, die Kiewer Tragäödie, 
habe dies genügend gezeigt, indem die Schuldigen nicht bestraft wurden. — 
Der Kadettenführer Miljukow erinnert daran, daß bereits vor einem 
halben Jahr in geheimen Sitzungen der Duma der Regierung gesagt wurde, 
was öffentlich nicht ausgesprochen werden durfte, daß die Regierung aber 
geantwortet habe, sie bedürfe der Hilfe der Duma nicht, und ohne sie fertig 
zu werden hoffe. Vollständiges Mißtrauen gegen das Volk sei immer noch 
der leitende Gedanke des russischen politischen Lebens. Die Regierung habe 
alles getan, um die politische Begeisterung des Volkes zu vernichten. Unter 
dem Vorwand des Kriegszwanges würden die unsinnigsten Verfolgungen 
fremder Völker, besonders der Juden, eingeleitet. Gegen die armen russi- 
schen Juden sei eine planmäßige Drangsalierung rohester Art unter der 
Beschuldigung der Spionage durchgeführt worden, die an die allerwildesten 
Zeiten des Mittelalters erinnere. Erst heute sei nach früheren nebelhaften 
Aufrufen des Generalissimus das Wort von der Autonomie für Polen ge- 
fallen. Hinsichtlich des Prozesses gegen die sozialistischen Dumamitglieder 
habe er Einsicht in die Akten genommen und erkannt, daß der Prozeß für 
alle Zeiten ein Symbol russischer Rechtsverdrehung bleiben wird. Auch 
das Bestechungssystem blühe immer weiter. Mit dem Abgang des Kriegs- 
ministers sei es nicht getan, da er die Duma direkt betrogen habe. Redner 
verlangt eine gerichtliche Untersuchung, da solche Handlungen als Staats- 
verbrechen zu betrachten seien. — Der Fortschrittler Jefremow verurteilt 
ebenfalls das Verhalten des Kriegsministers Suchomlinow und seines Ge- 
hilfen Wernander, die in den geheimen Dumasitzungen vom Januar be- 
ruhigende Angaben über die Kriegsausrüstung gemacht hätten, die der 
Wirklichkeit nicht entsprachen. Das Volk sei erregt über die verbrecherischen 
Zustände der Reichsverteidigung und des Kriegswesens. Genug mit der 
Geheimnistuerei, genug mit den Lügen! Die Armee soll wissen, daß nicht 
sie es ist, die an den Niederlagen die Schuld trägt. Der Redner schließt: 
„Die kritische Lage, in die das alte System Rußland gebracht hat, erfordert 
mit Notwendigkeit eine Veränderung des Geistes der Verwaltung, indem 
ein Ministerium der Landesverteidigung berufen wird, das aus den besten 
Vertretern des Landes ohne Rücksicht auf den Parteistandpunkt gebildet 
und das bereit ist, der Volksvertretung Rede zu stehen. Ehre und Heil 
diesem großen Rußland! Keine Deutschen sind ihm furchtbar! — Der Ver- 
treter der Arbeitergruppe, Kerenski, sagt, der Krieg habe das Land im 
Augenblick der fürchterlichsten Reaktion überrascht, als die lebendigen Kräfte 
unterdrückt wurden und nur die Hofpartei herrschte. Zivil- und Militär- 
behörden vereinigten sich in der Suche nach Sündenböcken, um die eigene
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.