Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

1110 Rußland. (August 1.) 
Unfähigkeit zu verdecken und die Niederlage zu beschönigen. Zu diesem 
Zwecke erklärte man unschuldige Juden als Verräter und scheute sich nicht. 
Protokolle zu fälschen. Er selbst sei nach Kuzy gefahren, um den den 
Juden dort vom Generalstab zugeschriebenen Verrat zu untersuchen. Er 
erkläre von dieser Tribüne feierlich, daß alles, was von den Militärbehörden 
über dieses Verfahren gesagt und geschrieben worden ist, eine verbrecherische 
Lüge, und daß das auf den angeblich dort begangenen Verrat seitens der 
dort gar nicht vorhandenen Juden bezügliche Protokoll eine glatte Fälschung 
sei. Mit aller Kraft protestiert Redner gegen die Behauptung, daß die 
Arbeiterstreiks von Deutschen hervorgerufen worden seien. Die Frage der 
Amnestie dürfe nicht aufgeschoben werden, und die besten russischen Männer, 
die jetzt in den Gefängnissen oder in der Verbannung schmachten, müßten 
sofort befreit werden. Ein Land mit verbundenen Augen und gefesselten 
Händen könne sich nicht verteidigen! — Als letzter Redner tritt der Ver- 
treter der Sozialdemokratie, Tscheidse, auf, der folgendes erklärt: Falls 
Rußland keine entscheidende Umwälzung im Innern des Reiches vornimmt, 
muß es bald vollständig zusammenbrechen. Während die Herren Mijasso- 
jedows hinter dem Rücken der Armee Rußland verkauften, verurteilte man 
unsere Kameraden und die Reichsduma-Abgeordneten, und Herr Schtscheglo- 
witow legte sie in Ketten. Die Arbeiter forderten ihre Zulagen von wenigen 
Groschen, und dafür wurden sie erschossen. Von den Juden wurden die 
ehrbarsten Männer als Geiseln festgenommen. Hat schon irgendeine Re- 
gierung einen solchen Zynismus erreicht, ihre eigenen Staatsangehörigen 
als Geiseln festzunehmen? Hier sprach man über die Autonomie Polens. 
Wann begann man darüber zu sprechen? Als ganz Polen vom Feinde 
besetzt war! In dem zerstörten Gebiet von Adschara fand man erfrorene 
Frauen mit Säuglingen, die vor den Vergewaltigern geflohen waren. Kaum 
betrat die russische Armee Galizien, da fingen die neu eingesetzten Behörden 
an, die Idee der „Schwarzen Hundert" zu pflanzen, und zu den Juden, 
die erschienen, um zu erfahren, welches neue Schicksal sie erwarte, sagte 
man: „Seid nur loyal, und ihr werdet dieselben Rechte bekommen, wie 
eure Glaubensgenossen sie in Rußland haben.“ Die vollständige Befreiung 
und Demokratisierung der Massen sei der einzige Ausweg aus der Lage. 
Die Verantwortlichkeit für die unzähligen Kriegsopfer, für die Zerstörung 
des ganzen wirtschaftlichen Lebens, für den Hunger und die Armut fällt 
im ganzen auf die Regierung, und gleichzeitig auf die dritte Reichsduma, 
welche zweifellos die Regierungspolitik unterstützte. 
Aus der Duma begeben sich die Minister in den Reichsrat, 
wo sie die gleichen Reden halten. Redner aller Parteien sprechen 
ihre Zustimmung aus. Die Polen begrüßen die Erklärung der Re- 
gierung betreffend die Autonomie Polens. 
Der Pole Weliopolsky sagt: Unsere Städte sind zerstört, unsere Dörfer 
in Asche gelegt. Der Feind steht vor den Toren unserer Hauptstadt. In 
dieser geschichtlichen Stunde erklären wir, daß das Ziel, das wir von Anfang 
des Krieges an vor Augen hatten, nicht von Sieg oder Niederlage abhängig 
ist. Wir hoffen, daß mit Gottes Hilfe Polen wieder hergestellt werden wird 
in Vereinigung mit Rußland unter dem Szepter unseres Monarchen. 
Der Reichsrat beschloß den Uebergang zur Tagesordnung mit einer 
Formel, welche besagt, er sei überzeugt, daß das ungeheure, geeinigte Ruß- 
land im Zusammenwirken mit der Regierung, der Duma und dem Reichsrat 
die Kraft finden wird, die die umstürzlerischen Absichten seiner Feinde und 
ihren Anschlag auf die Freiheit der Völker vernichten wird.
	        
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