Rußland. (August 2.) 1113
gessen, daß auf der polnischen Erde und in den übrigen Grenzbezirken,
wo auch das Blut der übrigen Nationalitäten fließt, auch das jüdische
Blut vergossen wird und unglücklicherweise nicht nur durch die Hände
des Feindes! Jetzt, wo eine elementare Völkerwanderung der jüdischen
Massen vor sich geht, wo die Juden von einem Teile des Reiches in den
anderen verjagt werden, wo die berüchtigte Ansiedlungszone ihre Bedeutung
verloren hat, wo die Juden zu Tausenden in das Tambopsche, in das
Woronische Gouvernement und nach Sibirien verschickt werden, da findet es die
Duma nicht für zeitgemäß, diesem leidenden Volke das Recht der Freizügigkeit
zu gewähren. Auf diese Weise bleibt hinsichtlich der jüdischen Frage alles beim
alten. Dieser Zustand wurde sogar noch besonders betont. Dies ergab sich
aus allen Maßregeln, welche die Regierung angewandt hat. In dem lange
dauernden Kriege wechseln die Erfolge mit den Mißerfolgen ab, und es
erschien für jeden Fall nützlich, in der Reserve Leute zu haben, die an
den Mißerfolgen schuld sind, einen Sündenbock bereit zu haben. Für
diesen Zweck besteht eine alte Firma, das ist der Jude. Kaum hatte
der Feind die Grenze überschritten, als sich schon Gerüchte verbreiteten, daß
das jüdische Gold auf Aeroplanen, in Särgen und in den Eingeweiden der
Gänse zum Feinde wanderte. Sobald sich der Feind näherte, erschien überall
der traditionelle Jude auf dem weißen Pferde, wahrscheinlich derselbe, welcher
zu irgendeiner Zeit auf einem weißen Pferde in den Städten herumritt,
um ein Pogrom hervorzurufen. Die Juden fingen an, Telephone anzu-
legen, die Telegraphen zu zerstören. Die Legende wuchs, sie wurde mit
Hilfe der Regierung verbreitet, und die Agitation in den offiziellen Kreisen
erreichte unerhörten Umfang. Gegen die Juden wurde eine Reihe von Maß-
regeln ergriffen, die an Schrecklichkeit und Ungeheuerlichkeit in der Geschichte
der Menschheit unerhört und noch nie dagewesen sind. Diese Maßregeln,
die vor den Augen der ganzen Bevölkerung in Ausführung gebracht wurden,
haben der benachbarten Bevölkerung und der Armee das Bewußtsein bei-
gebracht, daß die Juden von der Regierung wie Feinde behandelt werden,
daß das jüdische Volk außerhalb des Gesetzes gestellt wird. Zunächst fanden
diese Maßregeln ihren Ausdruck in der Verbannung der ganzen jüdischen
Massen aus vielen Orten. Im ganzen wurde zum Elend und zum
Umherirren fast eine halbe Million von Leuten verurteilt.
Wer gesehen hat, wie diese Aussiedlungen vor sich gingen, der wird sie
sein ganzes Leben lang nicht vergessen. Zur Aussiedlung wurde ein Tag,
manchmal auch zwei Tage Frist gegeben. Es wurden sowohl Frauen wie
Greise, Kinder und Kranke verschickt. Man hat sogar die Irrsinnigen aus
den Irrenanstalten herausgejagt und die Juden gezwungen, sie mit sich zu
nehmen. In Mogilnitza wurden 5000 Leute im Laufe eines Tages in die
Verbannung geschickt, ihr Weg ging nach Warschau über Calvaria. Man
zwang sie indessen, auf abseits liegenden Wegen nach dem Gouvernement
Lublin zu ziehen und nahm ihnen zugleich die Möglichkeit, ihr Eigentum
mitzunehmen; viele mußten zu Fuße wandern. Als ich nach Lublin kam,
waren für sie von dem jüdischen Komitee Brot und Nahrungsmittel bereit-
gestellt, aber man erlaubte ihnen nicht, haltzumachen, sie mußten weiter
wandern. Auf dem Wege kamen Unglücksfälle vor. Ein sechsjähriges Kind
fiel hin und schlug sich zu Tode, aber man gab den Eltern keine Erlaubnis,
das Kind zu beerdigen. Ich habe die Verbannten aus dem Kownoer Gouverne-
ment gesehen. Leute, die gestern noch wohlhabend waren, sind in einem Tage
zu Bettlern geworden. Ich sah unter den Verbannten jüdische Damen und
Mädchen, die noch gestern zusammen mit den russischen Damen arbeiteten,
Wäsche nähten und Liebesgaben sammelten, heute liegen sie auf den Schienen
der Eisenbahnen. Ich sah die Familien der zum Heere eingezogenen Reser-