Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

1294 Vereinigte Staaten von Uoerdameriks und Kauad#. (Dezember 6./8.) 
Aehnliche Verhältnisse herrschen in der Werkzeugmaschinenbranche. Gewißse 
Fabriken lassen sich nicht darauf ein, Preise für Werkzeugmaschinen, lieferbar 
in sechs bis acht Monaten, abzugeben, sondern behalten sich vor, die zur 
Zeit der Ablieferung vorliegenden Verhältnisse für die Preise in Betracht 
zu ziehen. 
Diese abnormen Verhältnisse sind herbeigeführt worden einerseits durch 
die enormen Aufträge an Munition, Werkzeugmaschinen und anderen Eisen- 
und Stahlprodukten und anderseits durch die Aufträge einheimischer Fabri- 
kanten für Rohmaterial, um sich mit genügend großen Lagern auf längere 
Zeit ein zudecken. Die Regierungen der verschiedenen in Betracht kommenden 
Mächte, ganz besonders Rußland, machen enorme Einkäufe an Stahl- und 
Eisenprodukten. Besonders werden große Aufträge auf Rollmaterial von 
russischer Seite plaziert. Die Preise scheinen bei solchen Lieferungen bei- 
nahe keine Rolle zu spielen; die Hauptsache ist kurzer Liefertermin, und 
dadurch werden die Preise naturgemäß in die Höhe getrieben zum Nachteil 
des gesamten Exporthandels sowie auch zum Nachteil der einheimischen 
Industrie. Die Exportziffer für die Woche, endend mit dem 4. Dezember 
erreicht über 453 Millionen Franken, eine Ziffer, wie sie in den Vereinigten 
Staaten zuvor noch nie erreicht wurde. 
Eines der Hauptmerkmale des internationalen Kongresses ist, daß die 
Aufmerksamkeit der Industriellen der Vereinigten Staaten mit Nachdruck auf 
die Tatsache gelenkt wird, daß die Transporteinrichtungen Nordamerikas 
für die Bewältigung eines solchen Exports, wie er zurzeit stattfindet, voll- 
ständig versagen. Ein Vertreter des Staatsdepartements stellt fest, daß 
zurzeit über 60000 Wagenladungen Waren für ausländischen und inländi- 
schen Verbrauch auf den Gleisen der verschiedenen Eisenbahnlinien stehen, 
welche nach New-YNork führen. Diese Frachtwagen können nicht weiter- 
geführt werden aus Mangel an Verschiffungsmöglichkeiten. 
Es wird ferner festgestellt, daß zurzeit in New-DYork und Umgebung 
ungefähr 700000 Tonnen Waren auf Verschiffung nach der alten Welt 
warten, und daß täglich etwa 50000 Schiffstonnen zur Verschiffung nach 
Europa gebracht werden. 
Es wird nun ganz besonders auf den Mangel hingewiesen, der darin 
besteht, daß die Vereinigten Staaten keine eigene Handelsmarine be- 
sitzen. Seit der Einführung des sogen. „La Follette Seamens’ Law“. 
welches für die Bemannung der amerikanischen Handelsschiffe und für die 
Besoldung der Matrosen viel schärfere, jedoch humanere Bedingungen auf- 
stellt, als dies bei der Handelsmarine anderer Nationen der Fall ist, konnte 
die amerikanische Handelsmarine mit der ausländischen nicht mehr konkur- 
rieren. Die Folge davon ist, daß der amerikanische Handel beinahe keine 
Möglichkeit besitzt, seine Exportwaren auf eigenen Schiffen nach den über- 
seeischen Bestimmungshäfen zu führen. Während Großbritannien 60 Prozent 
der Handelsflotte der Welt besitzt, verfügen die Vereinigten Staaten über 
kaum 7 Prozent, d. h. Handel und Industrie in den Vereinigten Staaten 
haben bloß ungefähr den zehnten Teil der Verschiffungsgelegenheiten auf 
eigenen Schiffen im Vergleich zu Großbritannien. Die jährliche Abgabe 
an ausländische Schiffahrtsgesellschaften für Frachten amerikanischer Export- 
güter wird auf elwa 300 Millionen Dollar berechnet. Diese Verhältnisse 
würden naturgemäß auch einen äußerst kritischen Einfluß im Falle der Ver- 
wicklung in einen Krieg ausüben, insbesondere hinsichtlich der Verprovian-- 
tierung der Flotte mit Kohlen und Oel. 
Bemerkenswert ist ferner die auf dem Kongreß vorherrschende Ansicht, 
daß nach Ende des Krieges Europa hinsichtlich Geldversorgung stark 
auf die Vereinigten Staaten angewiesen sei, und daß diese Gelegenheit
	        
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