Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiunddreißigster Jahrgang. 1917. Zweiter Teil. (58b)

104 Die Fierreichischunguiser Monarchir. (Juni 12.—16.) 
dem Unterschiede, daß die Herren von der linken Seite für die Tätigkeit 
ihrer Söhne und Brüder den Lohn erhalten haben, während wir von den 
politischen Behörden und der Soldateska in einer geradezu unglaublichen 
Art mißhandelt und gepeinigt worden sind. Der Grund für die Stimmung 
im Parlament und seine auffallende Zurückhaltung ist darin zu suchen, daß 
wir eigentlich keine Verfassung besitzen und nur ein fiktives Abgeordneten- 
Vaus darstellen, daß das Parlament nicht auf Grund eines gesetzlichen 
illens der Krone und der Regierung, sondern aus Ursachen zufälliger 
Natur versammelt ist. Weiter ist das Parlament ein Rumpfparlament, in 
dem nicht nur die eingekerkerten Abg., sondern auch die verstorbenen 
Mitglieder fehlen, Ergänzungswahlen werden nicht ausgeschrieben, weil 
die Regierung es nicht will. Wie es mit der Immunität bestellt int, 
kann man daraus ersehen, wie Anträge und Interpellationen konfisziert 
werden. Der letzte Grund für die Ohnmacht des Parlaments liegt darin, daß 
unsere Verfassungszustände sich in einem provisorischen Zustande befinden, 
wenn sie überhaupt als Verfassungszustände bezeichnet werden können. Wir 
sind darum überzeugt, daß hier im Hause an den großen Problemen, die 
Europa und die ganze Welt bewegen, nichts entschieden werden wird. Was 
ist auch das Parlament mit seinen Debatten und Streitfragen gegenüber 
der blutigen Dialektik, welche heute auf den Schlachtfeldern das Wort hat! 
Auch die staatsrechtliche Verwahrung der Tschechen wird nichts entscheiden, 
davon sind wir überzeugt. Das böhmische Staatsrecht ist nicht abgetan, 
es kann nicht den Gegenstand eines Verbalkampfes bilden. Ein großer 
Aufgang der Wirklichkeiten und ein großer Untergang des Scheins und der 
Lügen vollzieht sich jetzt. Man möge nur die Art betrachten, wie ein österr. 
Ministerpräsident die Probleme der böhmischen Frage, einer der wichtigsten 
Fragen des Reiches, aufzufassen beliebe. Die Ausarbeitung der Verfassung für 
das Königreich Böhmen sei einem Manne übertragen worden, der das 
böhmische Volk nicht kenne, der nicht wisse, was seine Schmerzen und 
Freuden seien. Graf Stürgkh hat den Tag nicht erlebt, wo er den Deutschen 
hätte Rechenschaft darüber geben sollen, daß er die Oktrois nicht machen kann. 
Ein verständiger Ministerpräsident nach ihm war anderen Sinnes. Er er- 
innerte sich, daß es in Oesterreich doch noch etwas anderes gebe als Wille und 
Allüren der Parteien und daß in Oesterreich auch Gesetze existieren. Aber 
das war ein großer Fehler. Er fiel darüber, daß er einen Sinn für Ver- 
fassung und Gesetzmäßigkeit hatte. Nun kam Graf Clam-Martinic, und 
sein Erstes war, die Oktrois zu versprechen. Er hätte sein Wort gewiß 
gehalten, wenn ihm nicht plötzlich die russische Revolution in die Arme 
gefallen wäre. Es ist ein ungesunder Staat, wo auswärtige Einflüsse für 
die Regelung oder Entscheidung wichtiger Fragen maßgebend sind. Die 
Verhältnisse bei uns bieten hinlänglich Trost, dank einem Umstande, der 
fürF das Empfinden des Volkes dem Herrscher gegenüber von größter Be- 
deutung ist, der dem Kaiser die Unvoreingenommenheit nicht nur des böb- 
mmischen Volkes, sondern aller Völker Oesterreichs, ja aller Bölker und Re- 
gierungen der Welt sichert: der junge Kaiser selbst ist nicht schuld an 
diesem Kriege. Er hat ihn bloß geerbt, ihn nicht erklärt, er ist moralisch 
nicht verantworlich für diese gräßlichsten Greuel. Wir sind daher glücklich, 
aus dieser Tatsache die unsagbar beruhigende Hoffnung schöpfen zu dürfen, 
daß in einem großen, geschichtlichen Momente, in dem der freie Wille der 
Völker ihre Staatsformen zu bestimmen und zu regeln haben wird, der 
junge Fürst, seiner reinen, schuldlosen, unbelasteten Vergangenheit treu, 
dem Willen unserer Nation und der Freiheit der Völker keine gewaltsamen 
Hemmungen entgegenstellen lassen, daß er sich vielmehr fürstlich-selbstlos 
in den Dienst dieses Willens und dieser Freiheit als deren Mitvollstrecker
	        
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