Frankreich. (August 7.) 433
möglich wäre, ihr Votum abzulehnen und die Mitwirkung an der Landes-
verteidigung zu versagen. Diese Haltung würden sie aber erst einnehmen,
wenn die franz. Regierung aufrichtige Beweise für ihren Friedenswillen.
und ihre Bemühungen zur Vermeidung des Rrieges gegeben hätte. Die
Frage, wer der Angreifer sei, hätten sich daher die franz. Sozialisten zu
Anfang des Krieges gestellt. Sie verschanzten sich nicht hinter der Formel,
daß alle Regierungen gleichermaßen schuldig seien, daß es unmöglich sei,
einen Unterschied zu machen, und seien daher nicht überrascht, wenn sich
die Internationale eingehend mit der Schuldfrage beschäftige. Ihr Urteil
erwarte die franz. sozialistische Partei mit Zuversicht.
Am 8. veröffentlicht die „Humanité“ die auf die wirtschaftlichen
Friedensbedingungen sich beziehende Antwort. Die franz. Sozialisten
lehnen darin die deutsche Forderung auf die Freiheit der Meere in Kriegs-
zeiten ab, doch erkennen sie an, daß ein Aushungerungsversuch, wie der
in diesem Kriege gegen Deutschland unternommene, nicht mehr vorkommen
dürfe. Die einzige Lösung, die sowohl England wie Deutschland die voll-
kommene Freiheit der Meere gewährleistet, sei die, daß die Seeherrschaft
aus den Händen Englands in die des Völkerbundes übergehe. Die Mög-
lichkeit der Blockade werde allen Parteien verboten werden unter der Be-
dingung der Achtung der internat. Rechtsorganisation des Völkerbundes.
Auf diese Weise werde das Problem der Freiheit der Meere eine gerechte
Lösung finden. Die Internationalisation der Verkehrswege sichere überdies
die nationale Selbständigkeit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker,
verstopfe also die Quelle neuer Konflikte. Der Völkerbund werde auch die
friedliche Regelung der internat. wirtschaftlichen Beziehungen nach dem
Nriege bringen müssen. Einsetzung internat. Handelsgerichte, Proklamation
des Grundsatzes der offenen Tür usw. Die Antwort bestätigt die Erklärung
der soz. Rammergruppe vom 24. Juli 1916, die den Wirtschaftskrieg nach
dem Frieden ablehnt und sich für das freie Handelssystem ausspricht.
Am 16. veröffentlicht die „Humanité“ den dritten Abschnitt der
Antwort über die politischen Friedensbedingungen. Danach sind
die französischen Sozialisten der Meinung, daß die Zurückgabe der deut-
schen Kolonien kein Friedenshindernis bilden dürfe. Unter Umständen
könnten koloniale Gebiete ausgetauscht werden. Das Friedensprogramm
umfaßt weiterhin folgende Punkte: 1. Abstimmung in Elsaß-Lothringen
ein Jahr nach der Wiederkehr des politischen Lebens auf der Grundlage
des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts. Wahlberechtigt
sind nur die altansässigen Elsässer und die vor oder während des Krieges
aus den Reichslanden ausgewanderten Elsässer. 2. Räumung der besetzten
Gebiete, ihre vollkommene territoriale, wirtschaftliche und politische Un-
abhängigkeit. 3. Entschädigung Belgiens und Luxemburgs. 4. Bildung
eines unabhängigen poln. Staates in allen Gebieten, deren Bevölkerung
sich überwiegend für die Zugehörigkeit zum poln. Staat ausspricht. 5. Volks-
abstimmung in Nordschleswig. 6. Volksabstimmung in den ital. Gebieten
Oesterreichs. 7. Litauen, Finnland, Armenien und die Ukraine sowie sämt-
liche Nationalitäten Oesterreichs und der Balkanländer erhalten das Selbst-
verwaltungsrecht und können Bundesstaaten oder unabhängige Staaten
bilden. 8. Rechtsgleichheit und kulturelle Freiheit der Juden. 9. Verwal-
tungsautonomie für diejenigen kolonialen Bevölkerungen, die eine gewisse
zivilisatorische Höhe erreicht haben, Austausch der besetzten Kolonien.
10. Der Friedensvertrag wird von allen Völkern der Erde unterzeichnet
und vom Völkerbund gewährleistet.
7. Aug. Ententekonferenz in London. (S. S. 325.)
Europäischer Geschichtskalender. LVIII . 28