Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiunddreißigster Jahrgang. 1917. Zweiter Teil. (58b)

Ruhland. (Februar 28.— März 2.) 649 
eignen Hände nehmen. Ueberall habe jene patriotische Unruhe Platz ge- 
griffen, die Rußlands Rettung sein werde. Sobald das Land zur Einsicht 
gelange, daß mit dieser Regierung der Sieg unmöglich sei, werde es ohne 
sie zu siegen trachten. 
Hierauf legt der Führer der Arbeitsgruppe (Trudowiki v. russ. truck 
— schwere Arbeit) Kerenski aufs schärfste Verwahrung gegen die Erobe- 
rungspolitik der Imperialisten ein, die mit den Zielen der Arbeiterpartei 
nnvereinbar sei. Er führt aus: Rußland und mit Rußland ganz Europa 
befinden sich in einer Krisis. Die Völker ertrinken in Blut; die Vorräte 
an Menschen und Vermögen wurden im Laufe dreier Jahre verschwendet 
und sind bereits aufgebraucht. Die militärische Krisis tritt in ihre letzte 
entscheidende Phase und die Versuche der gesamten Demokratie Europas, 
die für ein nüchternes (Zensurlücke) eintritt, sind machtlos, diesen Strudel 
zu hemmen, in den sich alle herrschenden Klassen in Europa wie die Irr- 
sinnigen gestürzt haben. Der Ausgang des letzten Aktes der Tragödie ist 
noch ungewiß. Die Kräfte sind erschöpft und erschöpfen sich bei allen. 
Wenn man uns sagt, daß bei unseren Feinden die Stimmung immer mehr 
und mehr sinkt, daß der Feind sich erschöpft, so ist es unsere Pflicht zu 
sagen, daß auch wir uns erschöpfen, daß die Stimmung unserer Volks- 
massen in unendlicher Progression sinkt. Wir durchleben Wirren, wie sie 
die Geschichte unserer Heimat bisher nicht kannte. Nicht nur die politische Er- 
kenntnis, sondern auch das wirtschaftliche Leben befindet sich in einem 
Chaos. Besiven wir wohl in diesem historischen Augenblick das politische 
Verantwortlichkeitsgefühl, um unsere persönlichen, um die Klassen- und so- 
zialen Interessen den Staatsinteressen unterzuordnen? Diese Erkenntnis 
fehlt uns noch. Man sagt uns, schuld ist die Regierung, schuld sind diese 
Leute, die hier wie Schatten kommen und gehen. Wer führt denn nun aber 
diese Schatten zu uns? Wenn Sie die Gesichichte der Regierungsmacht 
während der letzten drei Jahre durchblättern, so werden Sie sich 
entsinnen, wieviel hier von dunklen Mächten geredet worden ist. Nun, 
bricht etwa eine neue Epoche im russischen Leben an? Ist das System 
verschwunden? Nein, es ist voll und ganz geblieben. Ich erinnere Sie 
daran, daß nach Ansicht des ehemaligen Ministers Chwostow, der jetzt in 
unseren Reihen sitzt, fünf unserer Kollegen, Sozialdemokraten, nicht infolge 
eines Irrtums, sondern infolge einer absichtlichen Handlung des Gerichts 
zur Zeit des Ministers Schtscheglowitow nach Sibirien verbannt worden 
sind. Und wenn damals es einen Ssuchomlinow gab, so gibt es jetzt ein 
Rabinett Rittich-Protopopow-Galitzin, das die Arbeitergruppe des kriegs- 
industriellen Komitees dem Gericht überantwortet. Ich will durchaus nicht 
die Tätigkeit des Kabinetts auf den bösen Willen einzelner Personen zurück- 
führen. Der größte Fehler des Landes ist, immer und überall Verräter, 
deutsche Agenten, einzelne Stürmers zu suchen. Wir haben einen viel ge- 
fährlicheren Feind als den deutschen Einfluß, als den Verrat einzelner 
Personen. Dieser größte Feind ist das System, das System der mittel- 
alterlichen Vorstellungen vom Staat. Und ich frage Sie, m. H., haben 
diese drei Jahre Krieg uns endlich zu der grundlegenden Ueberzeugung 
gebracht, die allein imstande ist, Sie und uns, die Vertreter der Demo- 
kratie, zu einigen? Sie, meine Herren, erregt noch der eine Gedanke: die 
Idee imverialistischer Annexionen. Sie leiden an einer Utopie, erstreben 
Ziele, die nicht zu verwirklichen sind, und berücksichtigen nicht die wirk- 
liche Lage, in der sich das Land befindet. Wir begreifen bereits, daß 
nach dem dreijährigen Kriege, wo der Vorrat an Menschen und materiellen 
Gütern erschöpft !5 der Moment gekommen ist, um die Oeffentlichkeit auf 
die Liquidation des europäischen Konsliktes vorzubereiten. Der Konflikt 
 
	        
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