Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiunddreißigster Jahrgang. 1917. Zweiter Teil. (58b)

650 Rußland. (Februar 26. — März 2.) 
muß liquidiert werden auf der Grundlage der Selbstbestimmung alle: 
Nationalitäten, alle Regierungen müssen in gleicher Weise auf alle Erobe= 
rungen verzichten. Es wird gesagt, daß wir nicht im Namen des demo- 
kratischen Rußlands sprechen. Vielleicht. Doch auch Sie werden nicht früder 
im Namen Rußlands sprechen können, als Sie die Bedingungen geschaffen 
haben werden, unter denen die öffentliche Meinung im Lande sich ebenio 
frei wird äußern dürfen, wie in Deutschland und England. Lassen Sie die 
breiten Volksmassen sich versammeln und über die Aufgaben des Krieges 
beraten. Solange aber halten Sie Ihre provozierenden Banner zurück. 
beschreiten Sie die Linie der Einigkeit und lassen Sie Losungen, die für 
die breiten Massen unannehmbar sind, beiseite. (Protestrufe.) Ja, ich be- 
haupte, daß die Verkündigung uferloser Eroberungspläne keine Unterstützung 
finden kann. Sie wollen niemand hören außer sich selbst, Sie müssen aber 
uns hören, denn wenn Sie jetzt nicht unsere warnende Stimme vernehmen. 
so werden Sie nicht Warnungen, sondern Tatsachen gegenüberstehen. Beob- 
achten Sie das Wetterleuchten, das hier und dort am Himmelszelt des 
russ. Reiches auftaucht. Die Energie der Regierung trägt Früchte. Sie 
trägt den Zerfall auch in die Massen, und wehe über uns, wenn wir es 
nicht verstehen werden, rechtzeitig zu erfassen, daß man suchen muß, nicht 
mit Worten, sondern durch die Tat mit der Demokratie in Fühlung zu 
treten. Ich widerspreche nicht, wenn gewisse Leute, für die das Schweigen 
nach den bekannten Ereignissen besonders unstatthaft ist, hier anfangen. 
der Arbeiterbewegung Eselstritte zu versetzen. Aber seien Sie vorsichtig 
bei Behandlung der Volksseele, erheben Sie keine Vorwürfe wegen Verrat. 
Die Masse lebt das gleiche Leben wie auch Sie. Sie läßt still und ohne 
Zaudern ihr Leben an den Grenzen von Ost und West, sie hat die größten 
Entbehrungen zu erdulden, die Ihnen völlig fremd sind, und sie will ein 
Wort mitreden, wo es sich um ihre Zukunft handelt. Sie wird mit Ihnen 
gehen, wenn Sie ihren Geist erfassen. Geben Sie uns, wenn auch nur das 
fiktive Recht, hier von den Leiden, dem Fühlen, Denken und dem Schmerz 
der Volksseele zu reden. Geben Sie uns wenigstens hier die Möglichkeit. 
dies auszusprechen, ohne die bewußten Verdächtigungen jener, die zu früh 
das Fell des noch nicht erlegten Bären teilen! 
Am 2. März erklärt bei der Verhandlung der Interpellation über die 
Lebensmittelbeschaffung Sawitsch im Namen der ländl. Oktobristen: 
Da wir immer landwirtschaftliche Erzeugnisse ausführten, lebten wir in der 
Vorstellung, daß wir an diesen Ueberfluß hätten. Das war ein ungeheurer 
Rechenfehler. Wir haben niemals große Reserven besessen. Die Bauern 
verkauften alles, um die Steuern bezahlen und Schnaps kaufen zu können. 
Die Dorfbevölkerung selbst hungerte. Bei dem ietzt bestehenden Alkohol- 
verbot und der Entwertung des Papiergeldes ziehen die Bauern vor, die 
Erzeugnisse der Landwirtschaft für sich zu behalten. Dazu kommt, daß jesßt 
in der Landwirtschaft überall die nötigen Arbeitskräfte sehlen, was auf den 
ökonomischen Zustand des Dorfes eine einschneidende Wirkung hat. — Der 
Nationalist Schulgin sagt: Rittich kam mit dem Aufruf zu gegenseitigem 
Vertrauen. Er mag sich mit dieser Aufforderung zuerst an den Minister- 
rat wenden, in dessen Mitte selbst von gegenseitigem Vertrauen nichts zu 
finden ist. Die Regierung wendet den sog. deutschen Kriegssozialismus nur 
einseitig an. In Deutschland wird bei der Bevölkerung alles enteignek. 
aber auch alles der Bevölkerung zurückgegeben. Bei uns nimmt man ebenso 
alles fort, gibt aber der Bevölkerung nichts zurück. Um das deutsche Sustem 
durchzuführen, müßte ein anderer als Galizin an der Spitze unfrer Rc- 
gierung stehen. — Landwirtschaftsminister Rittich erklärt in seiner Er- 
widerung die Festsetzung von Höchstpreisen für wünschenswert und bezeichne:
	        
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