Rußland. (März 11.—14.) 655
Sitzung, die um 7 Uhr abends stattfand, wurde beschlossen, sofort einen
Aufruf an das Volk zu richten, sich um den neugebildeten Arbeiter= und
Soldatenrat:) zu scharen und die Verwaltung Petersburgs in die Hand
zu nehmen. Ferner wurden mehrere Ausschüsse zur Leitung der Bewegung,
zur Waffenbeschaffung, zur Versorgung mit Lebensmitteln usw. gewählt.
Als Leiter traten Tscheidse und Kerenski hervor. Am 13. wurde
solgender Aufruf des Rates an die Bevölkerung verbreitet: „Die alte
Regierung hat das Land zum vollen Zerfall, das Volk zum Hungern ge-
bracht. Ein weiteres Dulden war nicht mehr möglich. Die Bevölkerung
Petersburgs ging auf die Straße, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu
geben. Man empfing sie mit Salven. Statt Brot gab die Zarenregierung
dem Volke Blei. Aber die Soldaten wollten nicht gegen das Volk gehen
und erhoben sich gegen die Regierung. Zusammen mit dem Volke be-
mächtigten sie sich der Waffen, der militärischen Vorräte und einer Reihe
wichtiger Regierungsbehörden. Der Kampf dauert noch an, er muß bis ans
Ende geführt werden. Die alte Regierung muß endgültig gestürzt werden
und der Volksherrschaft das Feld räumen. Darin liegt Rußlands Rettung.
Um den Kampf zugunsten der Demokratie erfolgreich durchzuführen, muß
das Volk sich eine eigene Regierungsorganisation schaffen. Gestern, am
12. März, hat sich in der Hauptstadt der Ausschuß der Arbeiterdeputierten
gebildet aus gewählten Vertretern der Fabriken und Werke, aus aufstän-
dischen Truppenteilen und aus den demokratischen und sozialistischen Parteien
und Gruppen. Der Ausschuß der Arbeiterdeputierten, der in der Duma
tagt, stellt sich die Organisierung der Volkskräfte und den Kampf um die
endgültige Sicherung der politischen Freiheit und der Volksregierung in
Rußland zum Hauptziele. Der Ausschuß hat Bezirkskommissare ernannt,
um die Volksherrschaft in den Bezirken Petersburgs aufzurichten. Wir
sordern die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt auf, sich sofort um den
Ausschuß zu scharen, in den einzelnen Bezirken lokale Komitees zu bilden
und die Leitung der Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Wir alle
wollen zusammen mit vereinten Kräften für die volle Beseitigung der alten
Regierung kämpfen und für die Einberufung einer Konstituierenden Versamm-
lung, die auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen
Wahlrechts gewählt wird."
Mittlerweile griff auch die Duma in den Gang der Ereignisse ein.
Präsident Rodzianko hatte für den 12. März nachm. 3 Uhr eine Sitzung
der Duma einberufen, zu der nur ein kleiner Teil der Abgeordneten, dar-
unter nicht ein einziger Rechter, erschien. Nach Verlesung des kaiserl. Er-
lasses, der die Aufhebung der Sitzungen der Duma und ihre Wieder-
aufnahme im April oder später, den außerordentlichen Umständen ent-
sprechend, anordnete, saßten die Anwesenden den Beschluß, dem Befehl,
auseinanderzugehen, nicht zu gehorchen, und beauftragten die Aeltesten,
einen Vollziehungsausschuß im Namen der Duma zu wählen. Gleichzeitig
telegraphierte Präsident Rodzianko folgende letzte Warnung an den Zaren,
die ebenfalls unbeantwortet blieb: „Die Lage verschlimmert sich. Es müssen
sofort Maßnahmen getroffen werden, denn morgen wird es schon zu spät
sein. Die letzte Stunde ist angebrochen, in der das Schicksal des Vater-
landes und der Dynastie sich entscheidet.“ Das in der Stadt verbreitete
Gerücht, die Duma habe eine Prov. Regierung gewählt, veranlaßte ver-
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1) Im folgenden abgekürzt A.= u. S.-Rat. Es handelt sich dabei stets um den Petersb.
A.= u. S.-Rat, dessen Entschließungen, entsprechend der Bedeutung Petersburgs als Haupt-
stadt, für dasn ganze Reich maßgebend werden. Als Presseorgan des Rates (Sowiect) werden
die „Iswestija“ gegründet. Zu unterscheiden von diesem Rate ist der im Juli (I. S. 705)
vebildete Zentralausschuß der allruss. A-, S.= und Bauern-Käte.