Rußland. (März 14.) 657
zutreten. Unter großer Begeisterung erklärte sich die überwältigende Mehr-
heit für Kerenski. Auf Grund des vereinbarten Programms konnte sich
dann am 14. März die neue Regierung bilden. Sie erließ sofort einen
programmatischen Aufruf (s. u.), forderte das übrige Rußland und die
Armee zum Beitritt auf und schickte zwei Abgcordnete nach Pskow (Pleskau)
zum Zaren, um ihn zur Abdankung zu 'veranlassen (s. S. 660 ff.).
14. März. Bildung der Provisorischen Regierung.
Sie erläßt folgende Proklamation: „Mitbürger! Der Prov. Voll-
ziehungsausschuß der Reichsduma hat, unterstützt von der Garnison und
den Einwohnern der Hauptstadt, jetzt vollständig den schädlichen Einfluß
der alten Regierung gebrochen, so daß er jetzt zur festen Organisation der
ausführenden Macht schreiten kann. In diesem Augenblick ernennt der
Prov. Ausschuß folgende Minister des ersten nationalen Kabinetts, deren
frühere öffentliche und politische Tätigkeit ihnen das Vertrauen des Landes
sichert. Präsident des Semstwoverbandes Fürst Lwow: Ministerpräsident
und Inneres, der Abg. für Petersburg Miljukow: Aeußeres, der Abg.
für Saratow Kerenski: Justiz, der Vizepräsident der Reichsduma Nekras-
sow: Verkehrswesen, der Abg. für Kostroma Konowalow: Handel und
Industrie, der Prof. an der Univ. Moskau Manuilow: Oeffentl. Unter-
richt, das Mitglied des Reichsrates und früherer Präsident der dritten
Reichsduma, sowie Präsident der vereinigten Ausschüsse der mobilisierten
Industrie Gutschkow: Krieg und interimistisch Marine, der Abg. für
Petersburg Schingarew: Ackerbau, der Abg. für Kiew Terestschenko:
Finanzen, der Abg. für Kasan Godnew: Staatskontrolleur und Fürst
W. U. Lwow: Oberprokurator des Hl. Synods.
Die neue Regierung will ihre Politik auf folgenden Grundsätzen auf-
bauen: 1. Sofortige und allgemeine Amnestie für alle Personen, die Ver-
brechen politischer oder religiöser Natur begangen haben, darunter auch
terroristische Handlungen, Militärrevolten und Verbrechen gegen die Land-
wirtschaftsgesetze. 2. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Vereins= und Ver-
sammlungsfreiheit, sowie Streikrecht mit Ausdehnung dieser Rechte auf die
Militärpersonen innerhalb der Grenzen, die die militärischen und tech-
nischen Verhältnisse gestatten. 3. Abschaffung aller aus sozialen, religiösen
und nationalen Gründen bedingten Einschränkungen. 4. Sofortige Vornahme
von Vorbereitungen zur Einberufung einer Konstituierenden Versammlung,
die, auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhend, eine Regierung einrichten
und die Verfassung annehmen soll. 5. Ersetzung der Polizei durch eine National-
miliz mit gewählten Chefs, die der Leitung der Selbstverwaltung unter-
stellt sind. 6. Die Gemeindewahlen finden auf Grund des allgemeinen
Wahlrechts statt. 7. Die Truppen, die an der revolutionären Bewegung
beteiligt waren, sollen nicht entwaffnet, sondern in Petersburg konsigniert
werden. 8. Abschaffung aller Einschränkungen für die Soldaten hinsichtlich
der sozialen Rechte, die andere Mitbürger besitzen, doch nur unter der Be-
dingung einer strengen militärischen Disziplin im aktiven Dienst. Die Prov.
Regierung legt Gewicht darauf, hinzuzufügen, daß sie nicht beabsichtigt,
den Kriegszustand zu benutzen, um die Durchführung der oben genannten
Reformen aufzuschieben.“ (Sämtliche Mitglieder der Prov. Regierung bis auf
Kerenski (s. S. 619) gehörten dem alten progr. Dumablock an.)
Zur Unterstützung der Prov. Regierung erläßt der Arbeiter= und
Soldatenrat am gleichen Tage folgende Erklärung: „Die Regierung,
die aus gemäßigten Elementen des Landes zusammengesetzt ist, hat eine
Reihe von Reformen angekündigt, die sie teilweise noch während des Friegs,
leilweise nach dem Krieg zu verwirklichen beabsichtigt. Einige dieser Re-
Europäischer Geschichtskalender. LVIII 2. 42