Rußland. (November 14.—19.) 763
verhaftet wird. Kerenski selbst flüchtet. Seine Gefangennahme wird an-
geordnet. Die Stellung des Oberkommandanten der russ. Armee übernimmt
an Kerenskis Stelle der bish. Generalstabschef im Hauptquartier General
Duchonin. Am 17. werden daraufhin die Feindseligkeiten eingestellt.
14.—19. Nov. (Finnland.) Generalstreik. Regierungskrise.
Die Veranlassung zu dem von den Soz. proklamierten Generalstreik
bildet die Weigerung des Landtagspräsidenten in der Sitzung vom 13. Nov.,
den soz. Antrag betr. die sofortige Inkraftsetzung des Ges. vom 18. Juli
(s. S. 712) zur Erörterung zu stellen. Im Verlaufe des Ausstandes kommt
es zu großen Ausschreitungen der Roten Garde. In Helsingfors bemäch-
tigen sich (am 16.) die Ausständigen mit Unterstützung russ. Truppen des
Telegraphen und aller öffentlichen Institute.
Am 15. nimmt der Landtag. mit 127 gegen 68 Stimmen einen An-
trag der Agrarpartei an, wonach der Landtag, da die Wahl eines Reichs-
verweserdirektoriums (dessen Einsetzung der Landtag am 9. Nov. mit 106
egen 90 (soz.] Stimmen beschlossen hatte), noch nicht stattgefunden hat,
üch selbst vorläufig zum Inhaber der höchsten Regierungsgewalt erklärt.
Am 16. bestätigt sodann der Landtag die Gesetze über das Gemeindewahl-
recht in Stadt und Land mit 147 gegen 45 und das Gesetz über den acht-
stündigen Arbeitstag mit 149 gegen 42 Stimmen.
Am gleichen Tage wird dem Landtag mitgeteilt, daß die Mitglieder
des Senats ihr Abschiedsgesuch eingereicht haben. Ehe noch die Frage
der Neubildung der Regierung gelöst ist, wird am 17. vormittags das
Landtagsgebäude von Abteilungen der Roten Garde besetzt. Daraufhin er-
klären die bürgerlichen Fraktionen, auf eine weitere Erörterung dieser An-
gelegenheit verzichten zu müssen, solange die normale Tätigkeit des Land-
tags durch bewaffnete Volkshaufen gestört werde.
Angesichts der Ausschreitungen der Roten Garde, die von einem Teil
der Soz. selbst mißbilligt werden, wird der Generalstreik am 19. offiziell
für beendet erklärt. Die Bildung des neuen Senats erfolgt am 27. (s. S. 769).
15. Nov. Erklärung der Rechte der Völker Rußlands.
Das „Bulletin der Prov. Regierung der Arbeiter und Bauern“ ver-
öffentlicht folgenden Erlaß des Rates der Volkskommissare vom 2./15. Nov.;:
Die Oktoberrevolution (nach dem russ. Kalender gerechnet) der Arbeiter und
Bauern begann unter der Fahne der allgemeinen ESklavenbefreiung: Be-
freiung der Bauern von der Feudalgewalt der Großgrundbesitzer, denn das
Eigentumsrecht an Grund und Boden ist nicht mehr vorhanden, es ist ab-
geschafft; Befreiung der Soldaten und Matrosen von der uneingeschränkten
Gewalt der Generäle, denn die Generäle werden wählbar und absetzbar;
Befreiung der Arbeiter von den Launen und der Willkür der Kapitalisten,
denn eine Aussicht von seiten der Arbeiter wird fortan in den Werkstätten
und Fabriken ausgeübt werden. Jedes menschliche Wesen wird von ver-
wünschten Ketten befreit. Uebrig sind nur noch die Völker in Rußland, die
gelitten haben und die noch leiden unter dem Joch und der Willkür und
die sofort und unwiderruflich befreit werden müssen. In der Zeit des
Zarentums sind die Völker Rußlands planmäßig gegeneinander aufgehetzt
worden. Die Ergebnisse einer solchen Politik sind bekannt: einerseits Metze-
leien und Pogrome, andererseits Völkersklaverei. Diese Politik der Auf-
reizung ist beseitigt und ihre Wiederkehr muß für alle Zeiten ausgeschlossen
sein. Sie muß fortan durch die Politik der freiwilligen und aufrichtigen
Einigung der Völker Rußlands ersetzt werden. Während der imperialistischen
Periode nach der Februarrevolution, als die Macht in die Hände des
kadettischen Bürgertums überging, wurde die Politik der offenen Aufreizung