Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

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Das Oltener Aktionskomitee bringt (am 16.) in einer Erklärung 
zum Ausdruck, daß es von den Zugeständnissen des Bundesrats hinsichtlich 
der Ausarbeitung des Proporzgesetzes (Ausschreibung von Neuwahlen in 
den Nationalrat für März 1919) sowie hinsichtlich der allgemeinen Ver- 
sprechungen in bezug auf wirtschaftliche und soziale Forderungen (s. u.) 
nicht befriedigt sei, und fordert zum weiteren Klassenkampf auf. 
12.—14. Nov. (Nationalrat.) Streikdebatte, inn. Reformpläne. 
Auf Beschluß des Bundesrats tritt am 12. die Bundesversamm- 
lung zu einer ao. Tagung zusammen, um zu der durch den Generalstreik 
geschaffenen Lage Stellung zu nehmen. Im Nationalrat erstattet Bundes- 
präsident Calonder Bericht über die jüngsten Maßnahmen des Bundes- 
rats. Er legt die Gründe dar, welche die Landesregierung veranlaßt haben, 
zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung Truppen aufzubieten und 
erklärt, daß der Bundesrat den unbeugsamen Willen habe, Ruhe und Orde 
nung im Lande mit allen gesetzlichen Mitteln, selbst mit Waffengewalt, 
aufrechtzuerhalten. Zugleich aber sei der Bundesrat der Meinung, daß 
möglichst rasch eine Umgestaltung der Behörden in der Weise vorzunehmen 
sei, daß auch die soz. Partei darin eine ihrer Bedeutung entsprechende Ver- 
tretung erhalte. Wegen der Neuwahl des Nationalrats auf der Grundlage 
der Verhältniswahl werde den Räten ein Gesetzentwurf in der nächsten 
Dezembersession vorgelegt werden. Die Bundesversammlung habe dann zu 
entscheiden, ob die Wahl nach Proporz bereits im nächsten Jahre oder erst 
nach Ablauf der Legislaturperiode stattfinden soll. Der Bundesrat wolle 
so weit wie möglich die allmähliche Besserstellung der Lage der Arbeiter 
fördern, die Reform könne aber nur auf dem Boden von Recht und Gesetz 
unter Achtung des Willens des ganzen Volkes und der demokratischen ver- 
fassungsmäßigen gesetzlichen Einrichtungen vor sich gehen. Die politischen 
und sozialen Kämpfe würden in der Schweiz mit dem Stimmzettel in der 
Hand geführt, darum weise der Bundesrat jeden Versuch der Klassen= und 
Parteidiktatur und jeden Versuch, an die Stelle des verfassungsmäßig ge- 
äußerten Volkswillens ungesetzliche Gewalt zu setzen, mit der größten Ent- 
schiedenheit zurück. Der Bundesrat betone heute entschiedener als je die 
Notwendigkeit der Aufnahme von sozialpolitischen Vereinbarungen in die 
Grundlagen des Völkerbundes. Innerhalb des nationalen Rahmens seien 
alle sozialpolitischen Reformen schnellstens zu verwirklichen, die verwirklicht 
werden können. 
In der Abendsitzung erklärt der Sprecher der freisinnigen Fraktion 
die Proklamation des Landesgeneralstreiks als ein Verbrechen an Volk und 
Vaterland. Im übrigen sei Redner mit den sozialen Reformvorschlägen 
des Bundesrates einverstanden. Die katholische, die landwirtschaft- 
liche und die liberaldemokratische Gruppe der Bundesversammlung 
geben ähnliche Erklärungen ab und verlangen, daß der Bundesrat mit der 
ganzen Strenge des Gesetzes gegen die Uebeltäter vorzeze Die so zial- 
politische Gruppe erklärt sich mit den militärischen Maßnahmen einver- 
standen, bringt aber ihr Bedauern zum Ausdrucke, daß der Bundesrat 
nicht rechtzeitig durch soziale Maßnahmen dem Streik vorgebeugt habe. 
Greulich (Soz.) protestiert gegen den Ton der bürgerlichen Redner und 
erklärt, der Grund für den Generalstreik sei in den moralischen und phy- 
sischen Leiden der niedergehaltenen Arbeiterschaft zu suchen. Er fordert 
die Zurückziehung der Truppen. 
Am 13. erklärt Bundespräsident Calonder unter großem Beifall, 
daß es mit den Herren des allgemeinen Ausstandes keine Verhandlungen 
und keine Verständigung gebe, und daß der Bundesrat unter keinen Um- 
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