Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

354 Belgien. (Nov. 22.) 
22. Nov. (Brüssel.) Feierlicher Einzug des Königspaares, 
Thronrede des Königs, Neubildung des Ministeriums. 
Das Königspaar hält in Begleitung von Vertretern der verbündeten 
Heere an der Spitze zweier Divisionen seinen feierlichen Einzug in die 
Hauptstadt. Das Ministerium ist bereits am 21. von Havre nach Brüssel 
übergesiedelt. 
Nachmittags erscheint der König im Parlamentsgebäude und verliest 
vor den versammelten Kammern eine Thronrede, worin er darauf hin- 
weist, daß der nationalen Armee vor vier Jahren die Aufgabe anvertraut 
worden war, das gefährdete Vaterland zu verteidigen. Der König legt 
sodann dar, daß seine Haltung von folgenden Grundsätzen bestimmt war: 
seine internationalen Verpflichtungen voll und ganz zu erfüllen und das 
Ansehen der Nation sowie die Pflichten, denen jedes Volk treu bleiben 
müsse, zu wahren, ferner das Blut der Soldaten zu schonen, ihr Wohl- 
befinden zu sichern und ihre Leiden zu mildern. Der König gibt sodann. 
eine Darstellung des Verlaufes des Krieges und sagt: Belgien kann mit 
Stolz auf die Aufgaben seines Heeres blicken, das das Ansehen der Nation. 
ungemein gehoben und der ganzen Welt unschätzbare Dienste erwiesen hat. 
Der König zollt auch den militärischen Tugenden der verbündeten Truppen 
hohes Lob, die auf dem Boden des Vaterlandes in brüderlicher Vereinigung 
mit den Belgiern gekämpft haben, und kündigt dann an, daß die Regierung 
die Befragung der Nation auf der Grundlage des allgemeinen Stimmrechtes 
für jeden volljährigen Mann vorschlagen werde. Der König bespricht weiter 
die dringenden Maßnahmen, die das Parlament werde ergreifen müssen, 
um die unmittelbaren Wirkungen des Krieges zu beseitigen, die Verwaltung 
wieder herzustellen und der Arbeiterklasse die für ihre Entwicklung nötigen 
Bedingungen zu sichern. Auf dem Gebiete der Sprachenfrage werde strenge 
Gleichberechtigung gewahrt werden. Die Regierung werde die Errichtung 
einer flämischen Universität in Gent beantragen. Die Handlungen der Männer 
deren Absicht es während des Krieges gewesen sei, das Vaterland zu ver- 
nichten, könnten nicht Gegenstand einer Amnestie bilden. Die fläm. Be- 
völkerung habe diese Handlungen bereits selbst gebrandmarkt. Befreit von 
der Neutralität, die ihm Verträge auferlegt hatten, deren Grundlage der 
Krieg erschüttert hat, wird Belgien sich einer vollkommenen Unabhängigkeit 
erfreuen. Die Verträge, die es gegen den verbrecherischen Anschlag nicht ge- 
schützt haben, können die Krisen, deren Opfer das Land war, nicht über- 
dauern. In seine Rechte wieder eingesetzt, wird Belgien seine Geschicke in 
voller Unabhängigkeit bestimmen und den seiner Würde entsprechenden Platz 
in der auf Gerechtigkeit begründeten kommenden internationalen Ordnung 
einnehmen. Der Feind ist verpflichtet, die dem Lande zugefügten riesigen 
Schäden vollständig und rasch wieder gutzumachen. Durch Handelsverträge 
mit den Alliierten werde Belgien einen bequemen Zugang zu neuen Aus- 
wegen zum Meere erhalten, um dadurch die Zukunft des Antwerpener 
Hafens sicherzustellen. 
Das Ministerium tritt sofort zurück und wird in Uebereinstimmung 
mit den Vorschlägen der Parteien in folgender Zusammensetzung neu ge- 
bildet: Delacroix (Kler.): Präsidium und Finanzen, Renkin (Kler.): Eisen- 
bahnen, Baron de Broqueville (Kler.): Inneres, van de Vijvere (Kler.): 
Ackerbau, Jaspar (Kler.): Wissenschaft und Künste, Harmignies (Kler.): 
Wirtschaftsministerium, Masson (Lib.): Krieg, Paul Hymans (Lib.): 
Aeußeres, Louis Franck (Lib.): Kolonien, Anseele (Soz.): öffentliche Ar- 
beiten, Vandervelde (Soz.): Justiz, Wauters (Soz.) Industrie und Er- 
nährung, Coppieters (Soz.): Unterstaatssekretär im Ministerium der öffent-
	        
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