Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

790 Auhang I. Viplomatische Euthüllungen. 
ist. St. Petersburg, am 23./5. März 1914. Ssasonow. — Das in dem 
Bericht erwähnte Memorandum v. Nov. 1913 ist in dem russ. „Rotb.“ VII 
Nr. 69 („Dokumente“ S. 309ff.) veröffentlicht. 
6. Zur Frage des Zeitpunktes der russ. Mobilmachung. 
Die „Nordd. Allg. Ztg.“ v. 13. Juni 1918 (Nr. 298) teilt mit: Unser 
Vertreter hatte in diesen Tagen Gelegenheit, den Hetman der Kalmücken, 
Militärataman der Astrachaner Kosaken, Obersten Fürst Tundutow, der 
sich auf der Durchreise einige Tage in Berlin aufhielt, zu sprechen. Fürst 
Tundutow stand vor dem Kriege bei den russ. Gardehusaren. Bei Aus- 
bruch des Krieges wurde er als Adjutant dem Großfürsten Nikolai Niko- 
lajewitsch beigeordnet. Mit diesem verbinden ihn auch verwandtschaftliche 
Beziehungen, da seine Frau, ebenso wie die des Großfürsten, der Familie 
der Karageorgewitsch, dem montenegrinischen Fürstenhause, entstammt. In 
den Tagen vor Kriegsausbruch war Fürst Tundutow als Verbindungs- 
offizier zum Chef des Generalstabs, General Januschkewitsch, kom- 
mandiert und hat in dieser Eigenschaft die schwerwiegenden weltgeschicht- 
lichen Ereignisse jener Tage aus nächster Nähe mit angesehen. Er erzählte 
hierüber folgendes: „In jener Nacht, als der Zar dem General Januschke- 
witsch telephonierte und von ihm die Rückgängigmachung der Mobilmachung 
verlangte, hielt ich mich im Nebenzimmer des Arbeitszimmers des Generals 
auf und konnte alle Vorgänge genau verfolgen. Es war dies an dem Tage, 
an dem nachmittags das bekannte Gespräch des Generalstabschefs mit dem 
deutschen Militärbevollmächtigten Major von Eggeling stattgefunden hat, 
also der 16. Juli (alten Stils, 29. Juli neuen Stils). Nach dem Gespräch 
des Zaren mit Januschkewitsch, der den Auftrag erhalten hatte, die Mobil- 
machung rückgängig zu machen, sprach dieser meines Erinnerns telephonisch 
zunächst mit dem ihm nahe befreundeten Ssasonow. Gleich darauf rief er 
nochmals den Zaren an und teilte ihm mit, die Rücknahme des Mobil- 
machungsbefehls sei nicht mehr möglich, er sei bereits herausgegeben, die 
Truppen hätten ihn erhalten, alles sei im Gange, die Mobilmachung sei 
nicht mehr aufzuhalten. Ich hörte deutlich die helle, klare Stimme des 
Generals. Das, was er dem Zaren sagte, war gelogen. Vor ihm auf dem 
Tisch lag noch der unterschriebene Mobilmachungsbefehl, den er nun erst, 
gleich nach dem Gespräch mit dem Zaren, herausgab.“ 
Auf die Frage, ob es sich nur um den Teil- oder um den Gesamt- 
mobilmachungsbefehl gehandelt habe, sagte Fürst Tundutow: „Nein, es 
handelte sich um den Mobilmachungsbefehl für das ganze russische Heer 
in Europa und Sibirien.“ 
Dem General Januschkewitsch stand der Fürst, wie er hervorhob, nahe. 
Der Chef des Stabes rechnete damals, wie dies ja natürlich ist, bestimmt 
mit dem Siege Rußlands. Nach der Meinung des Fürsten Tundutow ist 
er zu dem Entschluß, den Krieg mit allen Mitteln herbeizuführen, in dem 
Augenblick gekommen, wo er die Ueberzeugung erlangt hatte, daß England 
sich am Kriege beteiligen würde. Die Entscheidung ist nach seiner Ansicht 
bereits am 11. Juli alten Stils, das ist der 24. Juli neuen Stils, in 
Krasnoje Selo gefallen, am Tage bevor dort die Parade stattfand und die 
Fähnriche zu Offizieren befördert wurden. Später, nach Ausbruch der Re- 
volution, hat der Fürst den General Januschkewitsch wieder gesprochen. 
Der ehemalige Chef des Stabes hat ihm den tatsächlichen Verlauf der Dinge, 
wie er ja aus dem Suchomlinowprozeß bekannt ist und wie ihn der Fürst 
geschildert hat, erzählt. Fürst Tundutow sagte über dieses Wiedersehen: 
„Januschkewitsch war jetzt ganz gebrochen und stand unter dem Druck der 
Verhältnisse. Offenbar wurde er von schweren Gewissensbissen verfolgt. Er
	        
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