Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

80 I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 15. 16. 
Artikel 15. 
Die evangelische und die römisch-katholische Kirche, sowie jede andere Religions- 
gesellschaft, orduet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig und bleibt im Be- 
sitz und Genuss der für ihre Kultus-, Unterrichts- und Wollthätigkeitszwecke bestimm- 
ten Anstalten, Stiftungen und Fonds. 
Artikel 16. 
Der Verkehr der Religionsgesellschaften mit ihren Oberen ist unbehindert. Die 
Bekanntmachung kirchlicher Anordnungen ist nur denjenigen Beschränkungen unterwor- 
fen, welchen alle übrigen Veröffentlichungen unterliegen. 
Der in dem Allgemeinen Landrecht Thl. II. Tit. 11 „Von den Rechten und 
Pflichten der Kirchen und geistlichen Gesellschaften“ aufgestellte sehr ausführliche Koder 
des Preußischen Kirchenstaatsrechts hat mannigfaltige Beurtheilung erfahren. 
Von der einen Seite ist er entschieden in Schutz genommen. Die Kirchengesetz- 
gebung des Allgemeinen Landrechts nehme, so wird gesagt, kein Recht für die Staats- 
gewalt in Anspruch, welches nicht in der Verfassung und Gesetzgebung rein katholischer 
Staaten ein rechtfertigendes Präcedens fände; vielmehr habe das Gesetzbuch in allen 
wesentlichen Punkten nur denjenigen Einrichtungen gesetzliche Sanktion ertheilt, welche 
in den neu erworbenen Landestheilen, besonders in Schlesien, unter streng katholischen 
Herrschern seit Jahrhunderten bestanden hätten. Wenn auch die Gesetzgebung des All- 
gemeinen Landrechts in Betreff der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kirche und 
Staat die nie zu befriedigenden Ansprüche der römischen Hierarchice sehr wenig befriedigte, 
so habe sich doch unter derselben die katholische Bevölkerung Preußens ein halbes Jahr- 
hundert, ungestört in ihrem Glauben und ihrer Religionsübung, in tiefem Frieden mit 
ihren evangelischen Mitbürgern wohl befunden. 
Von der anderen Seite ist behauptet worden, daß die Bestimmungen des All- 
gemeinen Landrechts von Haß, wenn nicht gegen die christliche Religion, so doch gegen 
die katholische Kirche diktirt und ebenso materiell unrichtig wie tyrannisch seien. 
Beide Ansichten sind irrig. Es ist nicht mit Sicherheit bekannt, welche Stellung 
der Verfasser des Allgemeinen Landrechts C. G. Svarez, ein geborener Schlesier, Mitglied 
der evangelisch-lutherischen Kirche und von mütterlicher Seite einer alten evangelisch-lutherischen 
Theologenfamilie angehörig, der christlichen Religion, insbesondere der katholischen Kirche 
gegenüber pershnlich eingenommen hat, und die Bestimmungen des Gesetzbuches sind 
daher an sich zu betrachten. Nun ist hier ein Doppeltes unverkennbar. Es wird 
nämlich das Gebiet des Glaubens, also das eigentliche religiöse Gebiet mit Entschiedenheit 
der staatlichen Gewalt entrückt, aber dafür unterschiedslos ieder Religionsgesellschaft das 
Joch des omnipotenten Staates aufgehalst, die Kirche, statt sie als einen dem Staat 
ethisch koordinirten Organismus anzuerkennen, in eine Reihe von Ortsgemeinden aufgelöst 
und zu einer Art polizeilichen Anstalt zur Beförderung der Sittlichkeit und des bürger- 
lichen Gehorsams herabgedrückt. Das Allgemeine Landrecht kennt — trotz der Ueber- 
schrift des Titel 11 — das Wort Kirche nur im Sinne eines Kirchengebäudes, aber 
nicht im Sinne der Gemeinschaft der Bekenner des Christenthums. Durch die Ver- 
einigung mehrerer Einwohner des Staates zu Religionsübungen entsteht eine Religions- 
gesellschaft. Religionsgesellschaften, welche sich zur öffentlichen Feier des Gottes- 
dienstes verbunden haben, heißen Kirchengesellschaften (oder Kirchengemeinden). Mehrere 
Kirchengesellschaften, welche denselben Glauben haben, bilden eine Religionspartei, 
stehen aber dadurch unter sich keineswegs in einer nothwendigen Verbindung, indem 
die Vereinigung mehrerer Kirchengesellschaften unter einem Konsistorium bezw. Bischof 
eine auf der Versofiung der einzelnen Gesellschaften beruhende rein thatsächliche Ein- 
richtung ist. Alle Geistlichen sind dem Staat zum Gehorsam verpflichtet, und kein 
auswärtiger Bischof oder anderer geistlicher Obere darf sich in Kirchensachen eine 
gesetzgebende Gewalt anmaßen oder eine andere Gewalt, Direktion oder Gerichts- 
barkeit ohne ausdrückliche Einwilligung des Staates ausüben (§§ 10, 11, 36, 134, 135, 
136 A. L. R. II. 11). Dagegen stehen sämmtliche Religionsgesellschaften unter der Gewalt 
des Staates, und diese Gewalt äußert sich nicht nur in dem überaus eingehenden Auf- 
sichtsrecht (8§§ 32, 33, 146, 151, 176, 180, 194, 197 ff., 238, 306, 648), sondern ist 
vielfach bis zu einer eigentlichen Betheiligung am Kirchenregimente selbst erweitert 
(88 161, 176, 180, 188, 219).
	        
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